Ausgerechnet Bruno Labbadia hätte ihn fast verhindert, diesen Angriff, der zu einem der berühmtesten Tore der Wolfsburger Fußball-Geschichte führen sollte. Denn viel hätte nicht gefehlt, und der spätere VfL-Trainer hätte Jann Jensen an diesem späten Dienstagabend in Köln-Müngersdorf den Ball abgenommen und selbst eine gute Abschlusschance gehabt. Aber Jensen, der dänische Manndecker des VfL Wolfsburg, setzte sich in der eigenen Hälfte durch, trat kurz an, spielte den Ball dann nach rechts auf Stefan Meißner, dessen Vollspann-Flanke genau bei Siggi Reich landete, der fünf Meter vor dem Tor nur einen gefühlvollen Ballkontakt brauchte, um den VfL in Führung zu bringen. Dieser Treffer reichte für die große Sensation: Zweitligist Wolfsburg gewann das DFB-Pokal-Halbfinale beim Top-Bundesligisten 1. FC Köln mit 1:0 – auf den Tag genau vor 25 Jahren.
Siggi Reich - Eine Karriere in Bildern:
Dass der VfL ein paar Wochen später das Finale in Berlin gegen Borussia Mönchengladbach chancenlos mit 0:3 verlor, passte am Ende in die Saison 1994/95 – die zwar die erfolgreichste war, die Wolfsburgs Kicker bis dahin jemals gespielt hatten, die aber auch jede Menge sportliche Tragik zu bieten hatte. Zweitliga-Herbstmeister war das Team geworden, ehe Coach Eckhard Krautzun – dem man vorwarf, das Team in der Winterpause nicht fit genug gemacht zu haben – nach einem 0:6 (!) in Rostock gehen musste. Dass Gerd Roggensack Nachfolger wurde, erklärte Manager Peter Pander später unter anderem mit den Worten: „Wir brauchten einen Trainer, der mit Siggi klarkommt...“
Siggi Reich, damals 35, war so etwas wie der erste Bundesliga-Star aus Wolfsburg – aber um das zu werden, hatte er den VfL mit 21 Jahren verlassen müssen, schoss für Mönchengladbach, Dortmund, Bielefeld, Hannover und Uerdingen 65 Erstliga-Tore. In Bielefeld, wo Roggensack sein Trainer war, hält er bis heute den Rekord für die meisten Bundesliga-Treffer in einer Saison (18). 1991 verhandelte der VfL mit dem damaligen Uerdingen-Manager Felix Magath Reichs Rückkehr nach Wolfsburg, und der Stürmer wurde endgültig zu einem Fußball-Idol der Stadt, hatte großen Anteil am Zweitliga-Aufstieg 1992 und wurde ein Jahr später Torschützenkönig. Einfach im Umgang war er nie – aber immer cool vorm Tor.
So wie an diesem Abend in Köln, der acht Tage nach dem Debakel von Rostock unter keinen guten Vorzeichen stand. Roggensacks väterliche Art hatte die Stimmung in der Mannschaft verbessert, ein 0:0 zwischendurch gegen Tabellenführer Mannheim galt als gutes Ergebnis. Aber am Vorabend des großen Pokal-Halbfinals drohte ein Prämienstreit den Verein zu spalten. „Es sollte nicht das geben, was besprochen war“, erinnert sich Reich heute. Der Mannschaftsrat drohte sogar damit, gar nicht anzutreten. „Aber irgendwann haben wir gesagt: Wenn wir schon mal hier sind, dann spielen wir auch. Streiten können wir später.“
12 Meilensteine aus 75 Jahren VfL Wolfsburg
Der FC, der neben Labbadia mit Pablo Thiam, Patrick Weiser und Frank Greiner drei weitere spätere Wolfsburger auf dem Platz hatte, war turmhoher Favorit, es kursierten schon Handzettel mit Reiseangeboten fürs Finale. Es schien Formsache zu sein – dann kam die 20. Minute. Jensen, Meißner, Reich, drin. „Und er macht den VfL Wolfsburg reich!“, wortspielte Gerd Rubenbauer am ARD-Mikrofon, nicht ahnend, wie sinnig der Ausruf war. Denn der VfL hatte in dieser Saison die Liga-Prämien stark an die Tabellenplätze gekoppelt – und das Team stand fast immer oben, während die damals noch bedeutsamen Zuschauereinnahmen nicht wie erhofft stiegen. So erklärt sich auch die Knauserigkeit in Sachen Pokal-Prämie. Reichs Treffer – „Das wichtigste Tor meiner Karriere“, wie er heute sagt – und der Finaleinzug linderten die finanzielle Not. An VW-Millionen im zweistelligen Bereich war damals noch nicht zu denken, der VfL war wirtschaftlich ein Zweitliga-Zwerg. Für einen wirtschaftlichen Sprung nach vorn hätte der Aufstieg gesorgt. Reich traf zwar in den letzten vier Liga-Spielen noch fünfmal, aber am Ende fehlen fünf Tore zur Bundesliga. „Das“, so Reich, „war schlimmer als das verlorene Pokalfinale“.




In der nachfolgenden Saison verstarb Reichs Vater, nur wenige Stunden später musste Roggensack nach einem 0:5 gegen Bochum gehen. Siggi Reich übernahm das väterliche Sportgeschäft in Fallersleben und machte 1996 mit dem Profifußball Schluss. „Beides zusammen ging nicht mehr“, sagt der heute 60-Jährige. „Der Rücken machte nicht mehr mit – und ich war nie der Typ, der sich ohne zu Murren auf die Bank gesetzt hätte.“ Das Geschäft schloss er vor einem Jahr, demnächst zieht dort eine Shisha-Bar ein. Tore gehören für Reich immer noch dazu, er spielt nicht nur Tennis beim SV Sandkamp, sondern auch Fußball in der Ü50 der TSG Mörse. Dieses eine Tor aber, vor 25 Jahren in Köln, bleibt auch in seiner Erinnerung herausragend: „Ins Pokalfinale einzuziehen, war immer ein Traum – und der erfüllte sich ausgerechnet mit meinem VfL.“
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