Zur Halbzeitpause tanzten die Menschen in Buenos Aires bereits auf den Balkonen. Während die großen Avenidas in der argentinischen Hauptstadt praktisch autofrei waren, die Busse menschenleer, versammelten sich die Fans der "La Scaloneta" – benannt nach dem neuen WM-Erfolgstrainer Lionel Scaloni – in den Clubs, Parks, Restaurants und rund um den 67 Meter hohen Obelisken auf der Plaza de la República. Durch die während des Spiels verwaisten Straßen patrouillierte die Polizei. Eine einmalige Atmosphäre in einer der leidenschaftlichsten Fußballstädte der Welt.
"Wir haben es so verdient. Vor allem Lionel Messi", sagt Diego, der mit seinem Freund Sebastian in der Halbzeitpause Bier-Nachschub für die vom Mitfiebern trockenen Kehlen holt. Er hat sich entschieden, wie so viele andere, die Partie im Nobelviertel Recoleta zu sehen. "Die Bude ist voll, wir können niemanden mehr rein lassen", berichtet die Türsteherin am Club de la Birra schon Minuten vor dem Anpfiff. Allerdings sind die Menschen nicht drinnen, sondern haben es sich vor dem Lokal auf dem Vorplatz bequem gemacht. Dort passt kein Blatt mehr zwischen die Fans.
Ein Juwelier in der Nähe hat kurzerhand seine Videowand zu einem Fußballmuseum umfunktioniert. Dort, wo normalerweise kleine Filmchen von teuren Uhren und Ringen zu sehen sind, flimmern in Endlosschleife die wichtigsten Szenen der argentinischen WM-Geschichte über den Bildschirm. Die Finaltore von Mario Kempes 1978, Diego Maradonas legendäre Tore bei der WM 1986 – und ganz aktuell auch ein paar Treffer des aktuellen Turniers in Katar, das von Kempes’ und Maradonas Nachfolger Messi geprägt werden wird.
Rund um den Obelisken – dem Wahrzeichen der argentinischen Hauptstadt – versammelten sich derweil Tausende Menschen. Schon am Abend zuvor begann dort eine "WM-Wache". Der Obelisk wurde blau-weiß angestrahlt, die riesigen digitalen Werbetafeln ringsum zeigten die aktuellen Werbefilme der argentinischen Nationalmannschaft. Selbst die Zebrastreifen, die Fußgängern durch den normalerweise dichten Verkehr der Hauptstadt helfen, sind in diesen Tagen blau-weiß angemalt.
Mbappé sorgt zwischenzeitlich für Entsetzen in Argentinien
Im Cafe Monet in Recoleta gibt es eine besondere Atmosphäre. Die Gäste haben das Pech, dass das Fernsehsignal etwa mit einer halben Minute Verspätung ankommt. Und das sorgt für skurrile Szenen. Während sich aus der Nachbarschaft bereits ohrenbetäubender Jubel über die Treffer von Lionel Messi und Angel di Maria zur vermeintlich klaren Führung in der ersten Halbzeit seinen Weg durch die Avenidas in Buenos Aires bahnt, ahnen die Gäste zwar schon, was in ein paar Sekunden auch auf ihrem Bildschirm zu sehen sein wird, schauen sich aber dennoch jedes Mal wieder etwas ratlos an. Besonders schlimm ist es bei den Treffern von Frankreichs Superstürmer Kylian Mbappé, die das Spiel gleich mehrmals wieder ausgleichen. Eine gefühlte Ewigkeit lang, die am Ende nur eine halbe Minute dauert, herrscht bange Ungewissheit, in denen sich das Entsetzen immer tiefer in die Gesichter der Zuschauerinnen und Zuschauer frisst.
Gegen Ende der Partie wird überall nur noch gezittert. Jede Abwehraktion wird begeistert gefeiert. Jeder Ballgewinn der argentinischen Mannschaft bejubelt wie ein Torerfolg. Die Minuten wollen einfach nicht verrinnen. Plötzlich dringen Schreie des Entsetzens aus den Wohnzimmern auf die Straßen. "No, No, no puedo ser" ("Nein, nein, das kann nicht sein"), brüllen die Menschen ihren Frust heraus. Innerhalb von Sekunden dreht sich die Partie. Frankreich ist wieder zurück, der schon sicher geglaubte Sieg scheint wie Sand zwischen den Fingern zu verrinnen. Nun werden Millionen Fingernägel gekaut. Dann folgt das Drama der Verlängerung – und der Nervenkrieg im Elfmeterschießen. Der Rest ist dann nur noch Riesenjubel.
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