Im ersten Moment war gar nicht so klar, ob tatsächlich mehr Bier oder sogar mehr Tränen flossen. Etliche Fans, aber auch die eigentlichen Protagonisten im Stadion am Böllenfalltor weinten jedenfalls hemmungslos, als der Ausnahmezustand nach einem friedlichen Platzsturm um sich griff. Das ganze Wochenende widmete Darmstadt seinen "Lilien", die nach sechs Jahren wieder die Bundesliga bereichern wollen. Mit einer Aura, die noch etwas Anarchisches besitzt.
Von Torwart bis Präsident: Alle bei Darmstadt 98 sind über sich hinausgewachsen
"Ein Traum, der in Erfüllung geht", stammelte der tüchtige Torhüter Marcel Schuhen, dessen Paraden am Freitagabend den Zittersieg gegen den 1. FC Magdeburg (1:0) sicherten. Ehe der 30-Jährige in der enthemmten Menge feierte, sagte er noch, er habe "einen vernünftigen Job" gemacht, was natürlich gewaltig untertrieben war. Ein Verein aus dem Etat-Mittelfeld im Unterhaus kommt nicht hoch, wenn nicht alle in einer Saison über sich hinauswachsen. Vom Torwart bis zum Präsidenten. Letzterer heißt Rüdiger Fritsch.
Der SV Darmstadt 98 hatte sich unter der Regentschaft des Wirtschaftsanwalts von 2015 bis 2017 eher zufällig in die Bundesliga verirrt, als die Strukturen eigentlich noch amateurhaft waren. "Damals hatten wir den kleinsten Etat, das hässlichste Stadion", erinnerte der 61-Jährige, "jetzt haben wir uns peu à peu nach vorne gearbeitet und Substanz aufgebaut." Sein Weitblick wird derart geschätzt, dass Fritsch nicht zufällig in der AG Zukunftsszenarien der Deutschen Fußball Liga (DFL) sitzt, die das an diesem Mittwoch zur Abstimmung stehende Investorenmodell entworfen hat. Der Mann weiß, dass Tradition allein keine Tore schießt. Deshalb hatte er früh darauf gedrungen, dass das marode Stadion endlich saniert wird. Nun ist das Schmuckkästchen mit seinen knapp 18. 000 Plätzen punktgenau mit dem vierten Bundesliga-Aufstieg fertig.
Und auch Trainer Torsten Lieberknecht passt dort so gut hin. Den Einpeitscher 2021 zu verpflichten, als der wenig später wegen eines gefälschten Impfpasses in die Schlagzeilen gerückte Markus Anfang lieber zum Absteiger Werder Bremen weiterzog, erwies sich als Glücksfall: Lieberknechts größte Leistung war, dass seine Spieler immer den Glauben behielten. Trotz einer teilweise surreal anmutenden Verletztenliste. Er habe dafür "manchmal schauspielern" müssen, verriet der gebürtige Pfälzer, der nach eigenem Bekunden "komplett leer" war. Und doch vergaß er bei allen Emotionen nicht, dem Kollegen und Vorgänger Dirk Schuster zu danken, der mit dem "Wunder von Bielefeld", dem damaligen Zweitliga-Aufstieg, vor neun Jahren die Grundlagen legte.
"Ich hätte nie gedacht, dass ich nach Braunschweig noch einmal so etwas finde"
Herzenswärme ist dem 49-Jährigen extrem wichtig, sonst wäre er nicht so lange bei Eintracht Braunschweig geblieben, wo er vor zehn Jahren schon mal auf ähnliche Art und Weise in die Bundesliga einzog. "Ich hätte nie gedacht, dass ich nach Braunschweig noch einmal so etwas finde", sagte der berührte Menschenfänger, der auf viel Engagement und Leidenschaft, aber auch reichlich Understatement und Demut setzte. Große Töne haben die "Lilien" erst gespuckt, als es vollbracht war. Vorher nie. Und das unterscheidet sie eben vom viel besser ausgestatteten Hamburger SV, der mit dem fast doppelten Budget für seine Profiabteilung hantiert.
Keinen freut das vielleicht mehr als Carsten Wehlmann, einen gebürtigen Hamburger, der für den FC St. Pauli und den HSV als Torhüter spielte, dann als Scout bei Holstein Kiel die Nischen der zweiten Liga durchforstete, ehe er im Februar 2019 in Darmstadt anheuerte. Der nüchterne Sportdirektor bildet eine weitere Schlüsselpersonalie. Kein Lautsprecher, aber ein Weichensteller. Der 50-Jährige ist gesegnet mit dem Näschen für die richtigen Personalentscheidungen. Torjäger Phillip Tietz beispielsweise kam vom Drittligisten und Nachbarn SV Wehen Wiesbaden. Die Nummer neun war auch am 33. Spieltag derjenige, dem das goldene Tor ins Glück gelang. Bereits mit dem blauen "Uffstiesch"-T-Shirt ausgestattet, erklärte Tietz den Coup so: "Wir sind ein geiler Haufen."
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