Leipzig. Es sind die wohl kürzesten zwölf Minuten des Jahres, die vielleicht nervenaufreibendsten der neueren Geschichte des 1. FC Lok. 720 Sekunden dauert die Nachspielzeit im Relegationsrückspiel beim SC Verl. Die Probstheidaer versuchen, das alles entscheidende 2:1 zu schießen. Doch die Bude, die die Leipziger in Liga drei und in die Profisphäre des deutschen Fußballs katapultieren soll, gelingt der Mannschaft von Bundesliga-Legende Wolfgang Wolf nicht. Nach dem 2:2 im Hinspiel reicht das 1:1 nicht, die Auswärtstorregel treibt den Blau-Gelben Tränen in die Augen.
Schicksalstag 30. Juni
Also doch keine Duelle gegen Kaiserslautern, 1860 München oder Dynamo, stattdessen wieder Alltag in der semi-professionellen Regionalliga Nordost, die auch ohne Corona stets einen finanziellen Balanceakt bedeutet. Während Verl in der 3. Liga überraschend vorn mitmischt und nach 13 Spielen schon sieben Siege eingefahren hat, steht Lok im Sommer vor einem Neuaufbau, der seinesgleichen sucht.
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2020 ist ein wildes, wirres, wegweisendes Jahr für die Blau-Gelben, die aufgrund des besten Punkteschnitts im Mai zum Nordost-Meister gekürt werden – der größte Erfolg seit der Insolvenz 2003.
Doch fünf Monate zuvor verkündet Präsident Thomas Löwe, dass der Vertrag mit Hauptsponsor ETL zum 30. Juni nicht verlängert wird. Zum genannten Datum laufen auch fast alle Spielerkontrakte aus. Blöder Zufall: Das Spiel in Verl findet ebenfalls an jenem letzten Juni-Tag statt. Ein Schicksalstag für Blau-Gelb.
Wolfgang Wolf verlässt den Verein nach dem verpassten Aufstieg und der damit nicht in Erfüllung gegangenen Vision „Dritte Liga 2020“. Der Pfälzer präsentiert aber zeitgleich seinen Nachfolger: Almedin Civa. Der optimistisch-realistische Bosnier packt an, baut aus dem Trümmerhaufen in drei Wochen einen neuen Kader mit Talenten und Routiniers, sieben Spieler aus der Vorsaison kann er halten. Civa führt Lok bis zur Corona-Pause im November immerhin auf Platz sechs – außergewöhnlich, zumal die Verantwortlichen nicht müde werden zu betonen, die Ansprüche der Vorsaison nicht mehr stellen zu können.
Auch, weil ein Hauptsponsor weiterhin fehlt. Dafür hat Lok so viele Sponsoren wie noch nie in seiner Geschichte, wie Löwe beim Lok-Talk in der LVZ-Kuppel berichtet.
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Fast täglich tagt inzwischen der NOFV: Wie die Saison zu Ende gebracht werden kann, ist wie im Frühjahr erneut eine nicht enden wollende Diskussion. Ausgang ungewiss. Und weil mögliche Playoffs die Lok wieder ins Aufstiegskarusell katapultieren könnten, haben die Probstheidaer doch erstmal einen einen Lizenzantrag für die dritte Liga gestellt.
Weltrekord beim "Spiel gegen den unsichtbaren Gegner"
2020 ist auch ein Jahr der Abschiede. Im Januar tritt Legende und Publikumsliebling Rainer Lisiewicz endgültig aus dem Trainerteam zurück. Der besonnene Lisiewicz bleibt der Lokomotive jedoch als Sponsorenbetreuer weiterhin treu. VfB-Urgestein Nicky Adler, der in der Bundesliga und lange Zeit in Liga zwei stürmte, beendet zudem seine Karriere. Verletzungen warfen ihn im letzten Lok-Jahr zurück, sodass der Blondschopf zwischenzeitlich zum Co-Trainer von Wolfgang Wolf avancierte.
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Eines hat 2020 trotz aller Widrigkeiten gezeigt: Auf die Lok-Fans ist Verlass. Im April hatten alle Clubs aufgrund des Lockdowns mit erheblichen Einnahmeverlusten zu kämpfen. Die Probstheidaer stellten einen Weltrekord auf. Für das „Spiel gegen den unsichtbaren Gegner“ wurden weltweit sagenhafte 182.610 virtuelle Tickets für je einen Euro verkauft. Sogar die BBC berichtete über die Loksche und die Regionalliga Nordost.