Rainer Bonhof traute seinen Ohren nicht. "Was? Wer soll reinkommen?", fragte der Assistent von Bundestrainer Berti Vogts im EM-Finale 1996 seinen Chef entgeistert. Oliver Bierhoff sollte kommen. Der hatte in der Fußball-Nationalelf bis dahin nur eine Nebenrolle gespielt, war schon 28 Jahre alt und erst seit März 1996 dabei, kein Stammspieler und hatte zu allem Überfluss im Team keinen leichten Stand. Vogts aber kannte ihn besser: "Immer, wenn ich ihn eingewechselt habe, hat er entscheidende Tore erzielt. Ob in der Jugend- oder Juniorennationalmannschaft. Er war der Mann, der die Rückstände wettmachte."
Genau so einen brauchten sie beim Stand von 0:1 gegen die Tschechen, 20 Minuten vor Schluss im Wembley-Stadion. Bonhof gab seinen Widerstand auf und Bierhoff das Signal. Vier Minuten später lag der Ball im tschechischen Tor, der blonde Hüne vom italienischen Erstligisten Udine hatte das 1:1 geköpft.



Oliver Bierhoff trägt sich in die Geschichtsbücher ein
Dann kam die Verlängerung und die Minute, die Geschichte schrieb: eine eher verunglückte Flanke von Kapitän Jürgen Klinsmann, ein Ratschlag von Marco Bode ("Andersrum, Olli!"), ein abgefälschter Linksschuss, ein tapsiger Torwart – fertig war das Fußballmärchen. Deutschland war Europameister und hatte einen neuen Helden. Bierhoff, der Mann, der das erste "Golden Goal" des Fußballs schoss. Ein Tor, das für das ultimative Ende eines Spiels in der Verlängerung sorgt.
Diese Regel ist wieder abgeschafft, keiner kann mehr auf diese Art berühmt werden. Bierhoff aber war zur rechten Zeit am rechten Ort und nutzte die Chance seines Lebens. Im Gespräch mit dem SPORTBUZZER sagt der heutige Direktor der Nationalmannschaft: "Ich habe ohne Zweifel von dem Tor profitiert. Es war ein unglaublicher Schub und gab mir eine ganz andere Aufmerksamkeit. Solche entscheidenden Tore bleiben in den Köpfen der Menschen hängen."
Dass sich der Fokus am Ende des Turniers auf eine Person richtet, konnte Vogts eigentlich nicht recht sein. Die EM, bei der er auf Kapitän Lothar Matthäus verzichtete, der Jürgen Klinsmann eine Intrige gegen ihn unterstellt hatte, stand unter dem Motto "Der Star ist die Mannschaft". Das traf auch zu. Der Triumph von Wembley war eine Teamleistung, Vogts brauchte dazu fast den ganzen Kader.
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Mit Rotation zum Titel: Deutschland in jedem Spiel mit anderer Startelf
Obgleich einige herausragten. Der den modernen Libero verkörpernde Matthias Sammer, schoss zwei wichtige Tore und wurde zu Europas Fußballer des Jahres gewählt. Torwart Andy Köpke hielt zwei Elfmeter – einen im Halbfinale gegen England, als die Gastgeber ihr Image des ewigen Losers im Elfmeterschießen unterstrichen. Aber nie wären die Deutschen so weit gekommen ohne Arbeiter wie Thomas Helmer, Steffen Freund und Dieter Eilts, der in England laut Mitspieler Bode "den Sechser erfunden hat".
Der Weg zum dritten Titel nach 1972 und 1980 war steinig. Vogts musste im DFB-Quartier Mottram Hall unentwegt Personalprobleme lösen, kein Tag verging ohne ärztliche Bulletins. So gab es in allen sechs Spielen eine andere Aufstellung. Deutschland 1996: stets angeschlagen, aber bis zuletzt ungeschlagen. Vogts stolz: "Dieses Team war so intakt, es hat vom ersten bis zum letzten Spiel funktioniert."
Von Deutschland in die Welt: Sportler als Botschafter
Egal, wer da auflief. Einmalig war, dass mit Jürgen Kohler, Fredi Bobic und Mario Basler drei Verletzte von einem Turnier abreisen mussten. Stefan Kuntz, Helmer und Klinsmann trugen Blessuren davon, hielten aber durch. Freund fiel im Halbfinale mit Kreuzbandriss aus. All das führte dazu, dass die Ersatztorhüter Oliver Kahn und Oliver Reck vom DFB vor dem Finale Feldspielertrikots erhielten und der Freiburger Jens Todt sogar vor dem Endspiel nachnominiert wurde.
Die größte Personalnot fiel ausgerechnet mit dem bis dahin größten EM-Turnier zusammen. England 1996 sah erstmals 16 Teilnehmer. Der Sieger musste sechs Partien bestreiten. Alle bisherigen Europameister waren dabei – das machte den deutschen Erfolg am Ende noch umso wertvoller.