Leipzig. Am Sonntag wäre es wieder soweit gewesen: BSG Chemie gegen den 1. FC Lok, das Leipziger Derby. Die Corona-Pandemie und die damit verbundene Zwangspause für die Regionalliga Nordost haben das Traditionsduell erstmal aufgeschoben. Währenddessen ist die sächsische Justiz noch mit dem Aufeinandertreffen beider Team am 22. November 2017 in Probstheida beschäftigt. Die Polizei ermittelte im Nachgang gegen eine Reihe von Fußballfans beide Lager.
Innenminister mit verschiedenen Zahlen
Juliane Nagel (Die Linke) stellte im Dezember 2017 und im April 2018 jeweils eine Kleine Anfrage zum Polizeieinsatz beim Derby im Landtag. In der ersten Antwort listete der sächsische Innenminister Roland Wöller eine unbekannte Zahl an BSG-Fans unter der Deliktsbezeichnung "Besonders schwerer Fall des Landfriedensbruch" im Tatort Bruno-Plache-Stadion sowie drei BSG-Fans unter dem Delikt "Verstoß gegen das Sächsische Versammlungsgesetz" auf.
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Im April 2018 antwortete der Minister mit anderen Zahlen, die sich aus vorangegangenen Identifizierungen durch „Ermittlungen, Auswertung von Videoaufzeichnungen, erstellte Fahndungsblätter sowie kriminalistische Erfahrungen bzw. Personenkenntnisse der szenekundigen Beamten“ ergaben. Wegen Verstoßes gegen das Sächsische Versammlungsgesetz wurde demnach gegen fünf bekannte und 13 unbekannte Täter ermittelt, wegen besonders schweren Falls des Landfriedensbruchs wurde damals noch seitens der Polizei gegen eine nicht genannte Anzahl sowie 13 bekannten Chemie-Anhänger ermittelt.
Hoher Aufwand
Nachdem in den vergangenen Wochen zwei Fans der Leutzscher vor dem Landgericht Leipzig freigesprochen wurden, fragte der SPORTBUZZER beim Rechtshilfekollektiv der BSG nach dem aktuellen Stand. Pressesprecherin Miriam Feldmann gab Auskunft.
SPORTBUZZER: Wie viele Strafbefehle wurden gegen BSG-Fans nach dem Derby am 22. November 2017 ausgesprochen?
Miriam Feldmann: Bei uns haben sich nach dem Spiel neun Chemie-Fans mit Strafbefehlen gemeldet. Vom ursprünglichen Tatvorwurf des schweren Landfriedensbruchwar da gar nichts mehr übrig. Bei fast allen Vorwürfen ging es „nur“ um Verstöße gegen das Sächsische Versammlungsgesetz, meistens um Vermummung. Einmal um Strafvereitelung, weil ein Fan eine Fahne gehalten haben soll, um etwas zu verdecken.



Der von der Staatsanwaltschaft an den Tag gelegte Ermittlungseifer ist uns schon damals – in den Monaten nach dem Derby – aufgefallen. Zu mehreren Heim- und Auswärtsspielen von Chemie stand die Polizei mit sogenannten Fahndungs- und Lichtbildmappen martialisch an den Einlässen und hat nach Fans gesucht, die angeblich an Straftaten beteiligt waren. Ein ganz schön großer Aufwand gegenüber Leuten, die während eines Fußballspiels ihren Schal für ein paar Minuten zu hoch gezogen haben… Ob letztlich wirklich Anklagen/Strafbefehle wegen des Vorwurfs des schweren Landfriedensbruchs entstanden sind, wissen wir nicht genau. Vermutlich nicht.
In wie vielen Fällen urteilte das Amtsgericht auf schuldig und konnte am Landgericht ein Freispruch erlangt werden?
In sieben Fällen hat das Amtsgericht Leipzig die Fans jeweils „wegen Vermummung“ verurteilt. Jedes Mal nach dem gleichen Prinzip. Ein szenekundiger Beamter der Polizei hatte geschnittenes Videomaterial vorgelegt, auf dem viel Pyro und Rauch und dazu die jeweiligen Angeklagten zu sehen waren. Damit wurde ziemlich bewusst der Eindruck vermittelt, dass die angeklagten Chemiefans daran beteiligt waren. Obwohl sie eigentlich nur hinter dem Qualm im Block standen. Die Amtsgerichte haben dieser Suggestion meist Glauben geschenkt und abgeurteilt. Entlastende Momente wurden in der Regel negiert. In einem einzigen Fall hat das Amtsgericht in Borna eine Fan erstinstanzlich freigesprochen. Hier ist dann die Staatsanwaltschaft Leipzig in Berufung gegangen.
Alle am Amtsgericht verurteilten Fans sind mit unserer Unterstützung dann in die Berufung gegangen. Das Landgericht hat sich die Fälle genauer angesehen. Mit Hilfe der RechtsanwältInnen gelangten die Angeklagten an das ungekürzte und nicht geschnittene Rohmaterial der Polizeivideos, das ein viel differenzierteres Bild lieferte. Gegen den ersten Angeklagten wurde das Verfahren dann eingestellt, alle anderen – bisher sechs – wurden klassisch und vor allem sehr deutlich freigesprochen.
Das kurzzeitige Hochziehen eines Schals oder Tuchs vor oder während der Rauchentwicklung konnte nicht als „bewusste Verschleierung der Identität“ gewertet werden, vor allem dann nicht, wenn die späteren Angeklagten ansonsten das ganze Spiel unvermummt und gut sichtbar am gleichen Platz standen. Um es deutlich zu sagen: keine einzige (!) der Anklagen oder Verurteilungen, gegen die mit rechtsanwaltlicher Unterstützung widersprochen wurde, hatte letztlich vor Gericht bestand.
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Wie viele Revisionsanträge hat die Staatsanwaltschaft an das Oberlandesgericht Dresden weitergeleitet?
Die Leipziger Staatsanwaltschaft, deren einzelne StaatsanwältInnen zuletzt sogar selbst auf Freispruch plädierten, sind in vier Fällen in Revision beim OLG in Dresden gegangen. Offensichtlich will man auf Teufel komm raus eine Niederlage verhindern. Dort wird Mitte Januar geprüft, ob das Landgericht Rechtsfehler begangen haben könnte. Insgesamt ein Wahnsinns-Aufwand, wie wir finden.
Wir sind sehr optimistisch, dass die Freisprüche bestand haben, denn die Richter des Landgerichts haben sehr sauber und sehr ausführlich ihre Freisprüche argumentiert. Selten haben wir Verhandlungen erlebt, bei denen sich Gerichte so intensiv und so kenntnisreich mit der Materie Fußballfans auseinandergesetzt haben.
Wie viele Urteile stehen noch aus?
Zwei Berufungsverhandlungen am Landgericht sind noch offen, außerdem eben die vier Revisionen in Dresden.
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