Didier Deschamps kann Historisches vollbringen. Sollte seine französische Nationalmannschaft am Sonntag (16 Uhr, ARD und Magenta TV) im WM-Finale Argentinien schlagen, wäre er der erste Mensch, der die WM als Spieler (1998) und zweimal als Trainer (2018, 2022) gewonnen hätte. Trotzdem reagierte er zurückhaltend, als er nach dem 2:0-Sieg im Halbfinale gegen Marokko auf seinen potenziellen Platz im Geschichtsbuch angesprochen wurde. "Es geht hier nicht um mich. Die Mannschaft ist wichtiger", sagte er und lächelte verlegen.
Dabei wäre es nachvollziehbar gewesen, wenn Deschamps den zweiten Einzug ins WM-Finale nacheinander genutzt hätte, um seinen Kritikern entgegenzutreten und eine Rede über die eigenen Leistungen zu halten. Denn Kritiker hat der ehemalige defensive Mittelfeldspieler genug, trotz seiner Erfolge als Herrscher über "Les Bleus". Der Hauptvorwurf lautet, dass er langweilig, teilweise unansehnlich spielen lasse – und das mit einer Mannschaft voller Weltstars. Als "Antifußball" bezeichnete Belgiens Torwart Thibaut Courtois nach dem WM-Halbfinale (1:0) vor vier Jahren das Spiel der Deschamps-Truppe.
Frankreich ohne Offensiv-Rausch
Auch in Katar verblüffen die Franzosen das Publikum nicht mit Ballbesitzfußball und rauschender Offensive, im Gegenteil. Das Halbfinale gegen Marokko verdeutlichte den Stil des Weltmeisters. Die Mannschaft hatte nur 39 Prozent Ballbesitz, zog sich nach dem frühen 1:0 von Theo Hernández zurück und erlaubte dem Gegner gute Chancen. Marokko-Trainer Walid Regragui beklagte hinterher zu Recht, dass mehr für seine tapfer kämpfende Auswahl drin gewesen wäre.
Es sagt viel aus über die Partie, dass Ibrahima Konaté neben Antoine Griezmann der wohl beste Spieler im französischen Team war. Konaté ist Innenverteidiger und half, hinten die Null zu halten. Kurz vor Schluss entschieden die Franzosen die Partie durch den Treffer des gerade erst eingewechselten Randal Kolo Muani von Eintracht Frankfurt. Frankreichs Fans konnten den zweiten Einzug in ein WM-Finale nacheinander feiern.
Deschamps verzückt keine Kritiker – kann aber Turniere gewinnen
Das ist das Werk von Deschamps. Er lässt einen pragmatischen Stil spielen, der sich zwar nicht eignet, um die Kritikerinnen und Kritiker zu verzücken – aber, um Turniere zu gewinnen. Bei Weltmeisterschaften sind selten die Mannschaften erfolgreich, die sich in Offensivkunst ergehen, ein Beispiel dafür waren in Katar die Brasilianer, die im Viertelfinale scheiterten. Für ein erfolgreiches Turnier braucht man die richtige Mischung aus Defensive und Offensive, man muss sicher stehen und in den richtigen Momenten zuschlagen. Das alles gelingt den Franzosen.
Ihr zweckmäßiger Ansatz ist bei der laufenden WM noch verständlicher als beim Titelgewinn vor vier Jahren. Den Franzosen fehlen wichtige Spieler verletzt, potenzielle Schlüsselspieler, nämlich N’Golo Kanté und Paul Pogba im Mittelfeld und Weltfußballer Karim Benzema im Sturm. Vor dem Turnier in Katar kannten viele Fachleute bei ihrer Prognose nur die Extreme – entweder das Aus in der Vorrunde oder die erfolgreiche Titelverteidigung.
Erste Titelverteidigung seit Brasiliens WM-Titel 1962?
Im Finale gegen Argentinien können die Franzosen das erste Team seit Brasilien 1958 und 1962 werden, das zweimal nacheinander Weltmeister wird. Deschamps weiß, dass seine Mannschaft Steigerungspotenzial hat: "Wir waren nicht perfekt gegen Marokko. Vielleicht können wir noch besser spielen." Trotzdem sollte niemand erwarten, dass der Trainer im Endspiel auf offensiven Ballbesitzfußball umschaltet.
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