Dresden. Etwas wie die Corona-Pandemie ist keineswegs ein neuartiges Phänomen. In den Jahren 1910 bis 1914 traten in verschiedenen Teilen der Welt immer wieder Infektionskrankheiten epidemisch auf: die Cholera, der systemische Typhus oder die weltverbreitete Tuberkulose. In Nordchina wurde die Mandschurei, darüber hinaus die Mongolei, von der „Yersinia pestis“ überfallen – von einer pestartigen Lungenerkrankung. Es war, als kehrte die „Schwarze Pest“ aus dem Mittelalter zurück. Sie schwappte nach Europa über, in ihren Ausläufern nach Deutschland. Dass dies nicht stärker geschah, hing damit zusammen, dass die Welt seinerzeit noch nicht ambivalent in sich verbunden war. Dagegen wurden in Deutschland zwei Abwehrmaßnahmen verordnet: strenge Hygiene, dazu die Quarantäne.
Mit dieser Weltsicht und seinem persönlichen humanbiologischen Verständnis für die Menschen in diesen Verhältnissen, für ihre Ängste, ging Karl August Lingner in eine atemberaubende Offensive. Der gebürtige Magdeburger und gelernte Dresdner rief zur I. Internationalen Hygieneausstellung nach Dresden. Sie fand vom 6. Mai bis zum 31. Oktober 1911 auf den Güntzwiesen und im Großen Garten statt. Die Ausstellung wurde zu einem gesundheitspolitischen und medizinisch-technischen Großereignis, Zahlreiche Wissenschaftler verschiedener Provenienzen, Mediziner (Internisten, Orthopäden, Chirurgen), Künstler und Techniker wurden zu Ideengebern und Organisatoren der Weltausstellung, die 5,2 Millionen Interessenten aus dem In- und Ausland besuchten.



Die Abteilung 17 gehörte dem Sport und dieser wiederum dem aufstrebenden Fußball. Es war die Zeit, da die Kinderschuhe aus- und „richtige“ Fußballschuhe mit Lederstollen angezogen wurden. Jüngste Forschungsergebnisse zur Geschichte des mitteldeutschen Fußballs verdeutlichen, dass die Fußballspiele während der Welthygieneausstellung zu einem bedeutenden Ereignis wurden. Sie verhalfen dem Fußball in Deutschland zum Masseneinfluss und zu öffentlichem Ansehen.
Karl August Lingner: Millionär und Visionär
Karl August Lingner, der Großindustrielle mit seinen beiden Werken in Dresden, der Odol-Mundhygieniker und Hersteller von Desinfektionsmitteln, war persönlich so umtriebig wie geschäftlich erfolgreich. Er erkannte die Zukunftsträchtigkeit dieser Sportart. Mit der Hygieneausstellung wurde Lingner zu einem Pionier des Dresdner und des mitteldeutschen Fußballs.
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Auf den Güntzwiesen entstand ein Modell-Sportgelände, das aus dem Jahr 1911 wie ein Steilpass weit in die Zukunft reichte. Dort, wo heute das Rudolf-Harbig-Stadion steht, wurde der „Sportplatz an der Hygieneausstellung“ gebaut, der in Wirklichkeit ein Stadion für 12 000 Zuschauer war, in dem Fußball gespielt und Leichtathletik betrieben wurde. Die Ballwerferplastik von Richard Daniel Fabricius aus dem Jahr 1907, die heute vor dem Hygiene-Museum steht, war im Eingangsbereich aufgestellt – etwa dort, wo sich die frühere Anzeigetafel des alten Harbig-Stadions befindet.
Hinzu kamen moderne Umkleidekabinen, physiotherapeutische und sportmedizinische Behandlungsmöglichkeiten, ein transportables Entmüdungsbecken, ein „Sportlaboratorium“ für experimentelle sportwissenschaftliche Zwecke und eine „Bibliothek des Sports“ mit 6000 Büchern. Für die Zuschauer wurde ein „Wellenschwimmbad“ errichtet, was in der extremen Hitze dieses Sommers gern angenommen wurde. Der Sommer 1911 war der wärmste zwischen 1874 und 1946. Karl August Lingner war Millionär und Visionär. Er griff tief in die eigene Geldbörse. Das Sportgelände war sein „initiative investment“.
Jürgen Hermann