So eine Trainer-Pressekonferenz hat der deutsche Fußball schon lange nicht mehr erlebt: Nur einen Tag vor dem offiziellen Saisonstart des FC St. Pauli in der zweiten Liga hat Coach Jos Luhukay seinen eigenen Verein regelrecht zerlegt. Unter anderem kritisierte der erst kurz vor Ende der vergangenen Saison verpflichtete Holländer die Mentalität der Hamburger mit harten Worten: "Bei St. Pauli gibt es zu viel Bequemlichkeit, zu viel Komfortzone, alle sind zu nett zueinander", lederte der 56-Jährige. "Das gilt für alle Bereiche in diesem Verein. Das sollte man in den Müll werfen. Dieser Klub benötigt eine Mentalitätsveränderung, eine höhere Intensität - im Scouting, im Nachwuchs, überall."
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Luhukay poltert gegen Transfer-Politik: Aufstieg "unmöglich"
Und das war bei weitem noch nicht alles von Zweitliga-Experte Luhukay ("Ich nehme kein Blatt vor den Mund"), der bisher mit drei unterschiedlichen Vereinen in die Bundesliga aufgestiegen ist (2008 mit Gladbach, 2011 mit Augsburg und 2013 mit Hertha BSC). "Nach fünf Wochen Vorbereitung steht die Erkenntnis, dass wir noch längst nicht fertig sind“, monierte der Trainer angesichts der akuten Personalnot. Und betonte: "Es ist ein hammerschwerer Weg für uns."



Viele andere Zweitligisten seien dagegen deutlich weiter: "St. Pauli hat im Moment keinen Ausnahmespieler wie Mario Gomez oder Daniel Didavi, der ein Spiel entscheiden kann. Diese Qualität haben nur Stuttgart, Nürnberg, Hannover und der HSV", sagte Luhukay. Von seinem beim Dienstantritt im April geäußerten Ziel, den Kiezklub binnen zwei Jahren in die Bundesliga führen zu wollen, ist längst nicht mehr die Rede. Im Gegenteil: "Es ist für St. Pauli unmöglich, unter die ersten Vier zu stoßen in dieser Saison. Alles über Platz neun wäre ein großer Erfolg", stellte der Coach vor dem Spiel bei Aufstiegsmitfavorit Arminia Bielefeld (Montag, 20.30 Uhr) fest.
Luhukay deutlich: "70 Prozent der Spieler sind nicht in der Lage, mehr als 15 Spiele in einer Saison zu machen"
Der Frust des Trainers ist verständlich. Mindestens ein halbes Dutzend Leistungsträger stehen ihm beim Saisonauftakt nicht zur Verfügung. Nur vier neue Spieler hat der FC St. Pauli bisher geholt, davon sind derzeit drei ebenfalls verletzt. Allein der in dieser Woche vom englischen Premier-League-Klub Brighton & Hove Albion ausgeliehene Schwede Viktor Gyökeres wird in Bielefeld auch im Kader stehen. So hat Luhukay wenigstens einen Backup für Dimitrios Diamantakos, den einzigen fitten Stürmer im Kader. Allerdings hat die St. Pauli-Spitze ihrem Coach noch Verstärkung in Aussicht gestellt. "70 Prozent der Spieler sind nicht in der Lage, mehr als 15 Spiele in einer Saison zu machen. Da muss man sich mal an den Kopf fassen", polterte Luhukay.
Viele Kenner der Szene sagen den Kiezkickern eine schwere Spielzeit voraus. Dagegen sind die Erwartungen in und um den Verein herum hoch. Sicher ist, dass der Verein mit seiner defensiven Transferpolitik ins Risiko gegangen ist. Obwohl Leistungsträger wie Jeremy Dudziak, Richard Neudecker, Alexander Meier, Sami Allagui und andere den Klub verlassen haben, wurden in Rico Benatelli, Boris Tashchy, Leo Östigard und Gyökeres bisher nur vier Zugänge ohne großen Namen verpflichtet. Da drei Neue und diverse weitere Verletzte vorerst nicht zur Verfügung stehen, ist klar: der Kader ist deutlich zu dünn besetzt. Darauf hat Luhukay nun noch einmal deutlich hingewiesen.
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Pauli und Luhukay müssen auf eigene Talente setzen
Dennoch ist gerade der erfahrene Niederländer der große Hoffnungsträger bei den Braun-Weißen. Immerhin kann er trotz der Verluste von Meier & Co. auf einen eingespielten Kader zurückgreifen. Und er setzt in seiner Not auf Toptalente wie Finn Ole Becker oder Luis Coordes, auf die er auch in der Zukunft weiterhin bauen möchte. Angesichts des knappen Personals bleibt ihm derzeit auch gar nichts anderes übrig.
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