Im Jahr 2008 war Julian Nagelsmann Abwehrspieler beim FC Augsburg II – und stand vor einer schwierigen Entscheidung. Die eigene Fußballkarriere war zu Ende, bevor sie richtig begonnen hatte. Nie enden wollende Verletzungsprobleme plagten den 20-Jährigen. Sollte er dem Fußball den Rücken kehren, etwas komplett anderes versuchen? Gemeinsam mit seinem damaligen Trainer hatte er eine andere Idee. Nagelsmann stieg ins Scouting ein und legte somit den Grundstein für eine zweite Laufbahn im Profifußball, die die erste längst in den Schatten gestellt hat. Der Name des Trainers war Thomas Tuchel.

Es ist mehr als eine Randnotiz, dass die beiden deutschen Top-Trainer sich zwölf Jahre später wiedertreffen – und das auch noch im für beide größten Spiel ihrer bisherigen Karrieren. Es geht um den Einzug in das Finale der Champions League, um den ganz großen Ruhm. Und es ist inzwischen ein Duell auf Augenhöhe: Während Tuchel als Chefcoach von Frankreichs Edelklub Paris Saint-Germain schon längst zur Elite der Trainer-Gilde gehört, hat spätestens mit dem Viertelfinal-Triumph gegen Atlético auch Leipzig-Coach Julian Nagelsmann diesen Schritt geschafft. Er wird mit 33 Jahren der jüngste Trainer in einem Halbfinale der Königsklasse sein.

Eindrucksvoll ist nicht nur die Statistik, sondern auch die Aussagen der Konkurrenz sind es. "Leipzig hat das Match perfekt verstanden", sagte Atléticos Boss Diego Simeone, der in der Champions League erst von vier Trainern besiegt werden konnte – Carlo Ancelotti, Zinédine Zidane, Massimiliano Allegri und jetzt Nagelsmann. Kaum jemand neutralisierte die Madrilenen so gekonnt wie RB. "Wir konnten nicht das Spiel aufziehen, das wir wollten", sagte der Argentinier zerknirscht. Nagelsmann hatte dessen defensive Grundhaltung antizipiert, ließ den Spaniern viel häufiger den Ball, als diese das wollten; seine deutlich unerfahreneren Spieler zeigten sich nicht nur in der Defensive unglaublich variabel, sondern auch angstfrei und unglaublich bissig.

Der Sieg gegen Atlético war eine taktische Meisterleistung

Der Sieg war vor allem eine taktische Meisterleistung des Trainers, der seine Mannschaft lautstark von der Seitenlinie antrieb. Er habe in Lissabon "seine Doktorarbeit geschrieben", urteilte Mundo Deportivo über Nagelsmann, der nun der einzige Coach ist, der sowohl José Mourinho als auch Simeone besiegen konnte – zwei der besten Trainer der Welt.

Nagelsmann beweist es auf der größtmöglichen Bühne gerade allen Gegnern und allen Zweiflern. Ja, er gehört schon länger zu den größten Talenten der Welt; sogar Real Madrid verfolgt den Karriere-Verlauf des Ex-Hoffenheimers interessiert. Die Champions League war sein Wettbewerb bisher nicht: mit der TSG musste er vor zwei Jahren als jüngster CL-Trainer überhaupt noch viel Lehrgeld zahlen, schied als Gruppenletzter aus. Nun hat er in seiner erst zweiten Saison in der Königsklasse auf brillante Art belegt, dass er die Weltspitze nicht nur anpeilt, sondern auch dort angekommen ist.