Leipzig. Torsten Kracht ging dahin, wo es wehtut. Als kompromissloser Zweikämpfer flog der lockige Blondschopf in 167 Bundesliga-Spielen sieben Mal vom Platz, in seinen 85 DDR-Oberliga-Einsätzen blieb er ohne Platzverweis. Mittlerweile ist der 53-jährige Ex-Verteidigier als CEO von Wincon Immobilien tätig, doch zur schönsten Nebensache der Welt zog es ihn dann doch wieder. Seit Januar wirkt Kracht wieder am Bruno-Plache-Stadion beim 1. FC Lok Leipzig, wo er 1985 sein Profidebüt feierte und 2004 die Karriere beendete. Als neu installierter Vizepräsident und ehrenamtlicher Sportvorstand der Probstheidaer möchte der zweifache DDR-Nationalspieler sich treu bleiben, auch mal Dinge sagen, „die unangenehm sind, die auch falsch sein können“, wie er im SPORTBUZZER-Interview verrät. Bei der Begrüßung sagte er zur Pandemie: „Ich habe das große Glück, dass meine Familie und ich gesund sind, das ist das Wichtigste. Außerdem bin ich glücklicherweise in einer Branche tätig, die nicht stark betroffen ist.“ Es folgte ein Gespräch über zeitintensives Ehrenamt, Nachwuchsarbeit, Kooperationen mit RB, Imageproblemen und Fußball pur.
SPORTBUZZER: Seit vier Wochen sind Sie im Ehrenamt - zum ersten Mal in ihrem Leben?
Torsten Kracht: Richtig offiziell ja. Die Notpräsidentschaft 2004 (Anm.d.Red.: beim VfB Leipzig) lassen wir mal außen vor, das war mehr ein genötigtes Ehrenamt, jetzt passiert es aus freien Stücken und Verbundenheit zu dem Verein, bei dem ich das Fußballspielen erlernt habe.
Neben Job und Familie - wie zeitintensiv waren diese ersten Tage als Sportvorstand?
Gerade für mich, der sich vermehrt im sportlichen Bereich kümmern will, ist es zurzeit schwierig. Du bist Samstag nicht beim Spiel, kannst mit Spielern am Sonntag beim Auslaufen nicht quatschen. Trotz der Situation habe ich im Verein aber schon viele gute Gespräche geführt. Ich will ja auch nicht der Frühstücksdirektor sein, der einmal im Monat bei der Präsidiumssitzung dabei ist. Mit Alme (Anm.: Almedin Civa, Trainer), das wissen Sie selber, können Gespräche über Fußball schon mal Stunden dauern.
Noch hakt es beim Übergang von A-Jugendlichen in den Männerbereich, sie haben seit Amtsantritt bereits mehrfach den Nachholbedarf angesprochen.
Das Problem hat ja nicht nur Lok, sondern auch die anderen großen Nachwuchsleistungszentren in Deutschland. Jeder schreit nach Kreativspielern, doch komischerweise kommen die aus Frankreich und England. Ohne allem zuzustimmen - aber was Mehmet Scholl gesagt hat, ist nicht ganz falsch. Die Jungs sollen mit zwölf Jahren auch was falschen machen dürfen und nicht 26 Taktikvokabeln auswendig können.
Zurzeit steht das Nachwuchstraining in Probstheida still. Konnten Sie dennoch Eindrücke gewinnen?
Wir haben eine Menge toller, motivierter Trainer. Wir müssen jetzt schauen, dass wir drumherum was machen. Ich hätte gerne einen hauptamtlichen Nachwuchsleiter, gerade handelt es sich um ein Ehrenamt mit kleiner Aufwandsentschädigung. Außerdem braucht es einen noch engeren Austausch. Daher ist es so wichtig, dass Alme langfristig gebunden worden ist, er interessiert sich sehr für den Nachwuchs. Denn so ehrlich müssen wir auch sein. Unseren Nachwuchs müssen wir besser fördern und unterstützen.



Rummenigge, Mintzlaff, Zorc – Vereinsverantwortliche melden sich gerne zu Wort und werden viel gefragt. Haben sie Vorbilder in Ihrer neuen Rolle?
Es gibt auf jeden Fall eine Menge positive Beispiele. Ob man jetzt die Bayern mag oder nicht: Da ist wirtschaftliche und sportliche Kompetenz. Oder Max Eberl, mit dem ich in Bochum vier Jahre zusammen gespielt habe. Vor ihm habe ich höchsten Respekt. Freiburg wird häufig genannt. Da wechselt nicht jede Woche der Abteilungsleiter, dann der Sportvorstand und so weiter, sondern da wird gesagt: Es funktioniert nur mit loyaler Arbeit untereinander und jeder macht, was er am besten kann. Auch Heidenheim macht das sehr gut. Kontinuität ist das Wichtigste – siehe Christian Streich in Freiburg oder Frank Schmidt in Heidenheim. Es war schon heftig, als ich gesehen habe, wie viele Spieler bei uns die letzten Jahre gewechselt sind.
Und wofür steht der 1. FC Lok Leipzig?
Lok muss versuchen, mit attraktivem Offensivspiel, aber auch Tugenden wie Teamgeist, kämpferisches Engagement und Leidenschaft zu begeistern, lieber 4:3 zu gewinnen als 1:0. Auch und vor allem in der Jugend: Lieber einmal 3:5 verlieren, als mit einem Glücksschuss 1:0 gewinnen. Wenn es auf der einen Seite in der Stadt Champions League gibt, dann kann es auch Fußball pur in der Regionalliga geben: mit einem Bier in der Hand und einer richtig guten Bratwurst, das wäre ziemlich perfekt für Leipzig. Ein Traum wäre: Irgendwann das Ganze in der zweiten Liga.
Wie beurteilen Sie RB?
Man kann natürlich sagen: RB hat viel Geld. Aber das trifft es nicht und Geld haben bzw. hatten auch andere. RB hat eine ganze Menge richtig gemacht und Toptransfers getätigt, die immer noch da sind und teilweise schon in der zweiten Liga gespielt haben. Das ist genau der Weg: Man holt junge interessante Spieler, die sich weiterentwickeln wollen, ergänzt durch gestandene Spieler und gute Typen, Spieler die uns nicht nur kurzfristig in der vierten Liga weiterhelfen. Ich möchte da gern den einen oder anderen Kontakt nutzen, um unser Team punktuell zu verstärken.
In Probstheida ist es fast ein Tabuthema – doch sollte Lok mehr vom Bundesligisten in der eigenen Stadt profitieren?
Zunächst ist es wichtig, dass Lok kontinuierlich seinen eigenen Weg geht und wir unsere Hausaufgaben machen. Aber klar, nicht jeder schafft es dann im Nachwuchs bei RB oder anderen Vereinen in die nächsthöhere Altersklasse. Unseren eigenen Jungs und eben den Jungs, die es vielleicht nicht sofort schaffen, eine Mannschaft weiterzugehen, diesen Talenten müssen wir Möglichkeiten bieten, leistungsorientierten Fußball in Kombination mit Ausbildung und Schule anzubieten. Damit sie sich denken: bevor ich nach Halle, Magdeburg oder Aue gehe, bleib ich lieber in Leipzig und bei Lok.



Der Ruf von Lok ist aufgrund rechtsextremer Hooligans nicht überall der Beste, vielleicht schreckt das Talente ab?
Nein, das sehe ich nicht so! Lok tritt sehr deutlich und klar gegen jegliche Form von Diskriminierung, Rechtsextremismus und Rassismus ein. Kids und Jugendliche aus über 20 Nationen spielen und trainieren in unserem Nachwuchs. Egal, ob ich mit Sponsoren oder Eltern rede, stelle ich das fest. Lok ist ein Verein, der für Toleranz steht. Wir wollen unserem Nachwuchs nicht nur die Lust und Freude am Fußball vermitteln, sondern möchte Ihnen auch wichtige soziale Werte vermittelten. Das ist dringend notwendig und steht bei mir ganz oben.
Haben Sie das Fußball-Business aus der ersten Reihe die letzten Jahre vermisst?
Sagen wir mal so. Ich habe es nicht vermisst und auch nicht gebraucht, in der Öffentlichkeit zu stehen. Das hatte ich viele Jahre und es war eine tolle Zeit. Heute bin dankbar, auf einer anderen Ebene Karriere gemacht zu haben. Aber natürlich bin ich im Herzen Fußballer geblieben und es ist schön, am Rasen zu stehen. Frustrierend ist nur, dass wir nicht spielen können.
Wie realistisch ist eine Wiederaufnahme der laufenden Saison?
Ich hoffe, das es Anfang April möglich ist. In der 4. Liga geht das aber nur mit Zuschauern und nicht als Geisterspiele.
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