„Morgen ist Training“, ruft Claudio Ranieri. Aber irgendwie bekommt den Scherz in Leicester keiner so richtig mit. Vielleicht liegt es daran, dass der Trainer von Leicester City gerade von seinem Spieler Christian Fuchs bei der Meisterparty am Sonnabend mit Champagner übergossen wird. „Das ist für dich, genieße es“, sagt Fuchs, der ehemalige Schalke- und Mainz-Profi, der nun englischer Fußball-Meister ist. Der Titel stand schon seit einer Woche fest. Das 3:1 gegen den FC Everton war nun der Anfang einer großen Meisterparty. „Das beste Gefühl der Welt“, ruft Kapitän Wes Morgan, als er nach dem Spiel mit Trainer Ranieri den Premier-League-Pott in die Höhe reckte.
Wer wissen will, wie die Stadt fühlt, die gerade das Wunder (er)lebt, muss eine Wurst kaufen gehen. Metzger Ashley Dilkes bedient in der Fleischerei Archer in der Queens Road im Süden von Leicester, der schmucklosen Stadt zwei Stunden nördlich von London. Bei Archer begegnen sich die Leute und reden: über die Stadt, die Nachbarschaft – und eben über Leicester City, den Fußballklub. Dem 22-jährigen Ashley ist aufgefallen: „Seit Monaten haben die Kunden ein Grinsen im Gesicht.“
Das große Fußballwunder
Als Fans von Leicester City erleben Ashley und seine Kunden eine unglaubliche Saison. Die „Foxes“, als Abstiegskandidaten gehandelt, sind Meister, haben milliardenschwere Klubs wie Chelsea, Arsenal, Manchester City und United vorgeführt. Eine unglaubliche Geschichte, wie sie der englische Fußball noch nicht erlebt hat.
Fragt man Ashley, wem dieses Wunder zu verdanken sei, fällt zunächst der Name Claudio Ranieri. Dem 64-jährigen Italiener zu Ehren hat der Metzger die „Ranieri Sausage“ erfunden: eine Bratwurst, aufgepeppt mit Fenchel, Knoblauch und Chili. Vor Kurzem überreichten die Fleischer auf einer Pressekonferenz des Klubs dem italienischen Coach ihre Kreation. Der sanfte Ranieri bedankte sich, verzichtete aber mit Verweis auf den hohen Knoblauchgehalt der Ware auf eine Kostprobe.
Nach Ranieri ist der zweite Name, der immer wieder in Verbindung mit dem Fußballwunder fällt: Richard III. Der englische König starb 1485 auf dem Schlachtfeld, jahrhundertelang war sein Leichnam verschollen. Dann entdeckten vor vier Jahren Bauarbeiter die Überreste des Herrschers unter einem Parkplatz – im Zentrum von Leicester. Auch das war eine Sensation.
Im vergangenen Jahr wurden Richards Gebeine feierlich in der örtlichen Kathedrale beigesetzt. Leicester City stand damals auf einem Abstiegsplatz, rettete sich aber dank einer überraschenden Siegesserie. Dann begann die Spielzeit 2015/16. Der König hatte endlich seine Ruhe gefunden – und Leicester gewann einfach weiter Spiel um Spiel.
„Eigentlich bin ich nicht abergläubisch“, sagt Metzger Ashley, „aber das ändert sich gerade.“ Auch weil er neulich gelesen hat, dass Jamie Vardy mit Zweitnamen Richard heißt. Der 29-jährige Torjäger gilt als Symbol für den wundersamen Aufstieg der „Foxes“. 2010 kickte Vardy noch in der achten Liga, teilweise mit einer Fußfessel, wegen einer Verurteilung nach einer Kneipenschlägerei. Heute ist Vardy Nationalspieler und fährt im Sommer zur EM.
Zweiter Frühling für Okazaki, Fuchs und Huth
Tatsächlich galten viele Leicester-Akteure lange als Durchschnittskicker, ihr aktueller Trainer sogar als Lachnummer: Vor seinem Engagement bei den „Foxes“ trainierte Ranieri die griechische Nationalelf, wo er nach einem peinlichen 0:1 gegen die Färöer gefeuert wurde. Nun erleben unter Ranieri Routiniers wie der Ex-Mainzer Shinji Okazaki, Fuchs und der Deutsche Robert Huth einen zweiten Frühling.
Ein paar Kilometer weiter, im Victoria Park, schieben sich die Bolzplatzkicker Kyle und Daniel den Ball zu. Eigentlich sind sie Chelsea-Fans, aber diese Saison drückten sie Leicester die Daumen. Warum? „Es ist einfach eine coole Geschichte.“ Und die wird noch besser: „Foxes“-Besitzer Vichai Srivaddhanaprabha schleppte nach dem Meisterstück auch noch 3,16 Millionen Euro aus der Spielbank der Stadt – er hatte den Betrag beim Kartenspielen gewonnen. Was für ein Lauf ...
Am King-Power-Stadion fotografiert Sozialarbeiter Immanuel seine Kinder vor der blau-weißen Fassade des Baus. In großen Lettern ist dort das Vereinsmotto zu lesen: Fearless – furchtlos. Es meint: keine Angst vor den Großen.
Meister! Fußballhauptstadt Leicester
Und so sangen die Leicester-Fans am Sonnabend im Stadion: „Barcelona, wir kommen.“ Der Greenkeeper hat bereits die Sterne der Champions League in den Rasen gemäht. Und Trainer Ranieri? „Lassen Sie mich ans Meer fahren, meine Batterien wieder aufladen, und wir starten in die nächste Saison mit dem gleichen Ehrgeiz, mit der gleichen Demut, mit dem gleichen Gefühl“, sagte er. Und dann wurde weitergefeiert.
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