Der Bus rollt durch das abendliche Aachen. Markus Weck blickt durch die getönten Scheiben nach draußen. Es ist der 25. Oktober 2005, die Bürgersteige im Stadtteil Laurensberg füllen sich. Während bei den Spielern von Hannover 96 die Konzentration auf das anstehende DFB-Pokalspiel steigt, bereiten sich an der Krefelder Straße die Zuschauer auf die Partie vor. Kurz zuvor hat Weck von Trainer Ewald Lienen erfahren, dass er erstmalig zur Startelf der Profis gehören wird.
Weck schaut verstohlen durch die Sitzreihen. Da ist zunächst Robert Enke. Als Weck bei der Abfahrt in Hannover im Mannschaftsbus Platz nehmen wollte, wurde er zurechtgewiesen. Etliche Profis beanspruchten bestimmte Sessel für sich und schickten den 21-jährigen Neuling weg. Bis der Torwart ihm den Sitz neben sich anbot.
Ein paar Reihen weiter: Per Mertesacker, der Freund aus Kindertagen. Für die Jungs aus Pattensen erfüllt sich ein Traum. Auch Mertesacker gehört zur Anfangsformation. Gemeinsam hatten die beiden als D-Junioren den Schritt vom TSV Pattensen zu Hannover 96 gewagt. Dass dort anfangs ihre Väter das Trainergespann bildeten, erleichterte den Einstieg. „Besonders Markus war richtig, richtig gut“, schreibt der 104-fache Nationalspieler Mertesacker in seiner Autobiografie „Weltmeister ohne Talent“. Weck habe bessere fußballerische Anlagen als er selbst mitgebracht. Während Mertesacker rasch aus dem NFV-Auswahlteam aussortiert wurde, war Weck dort fester Bestandteil. Pers Vater Stefan Mertesacker erzählt, dass Weck ein „gottbegnadeter Fußballer“ gewesen sei. „Vielleicht der beste, den ich je trainiert habe. Das war ein Verrückter, der hatte nur Fußball im Kopf.“ Von Kindergeburtstagen sei Weck vorzeitig abgeholt worden, um zum Training zu gehen. „Möglicherweise war es manchmal etwas zu viel“, sagt Stefan Mertesacker.
Bilder der Fußballerlaufbahn von Markus Weck
Versteckte Kamera?
So ging es für Weck nicht auf direktem Weg in Richtung Profis. Zwischen der Zeit bei den 96-Junioren und dem Spiel in Aachen standen noch zwei Jahre bei seinem Heimatklub. Als Weck im Jahr 2003 bei den Pattenser Männern zur Probe trainierte, wussten Coach Rüdiger Beilhardt und Torjäger Dirk Marotzke nicht, was sie erwartet. Doch schon nach wenigen Minuten ahnten sie, dass es sich um einen außergewöhnlichen Gast handelt. Beilhardt berichtet schmunzelnd, dass er nach einer versteckten Kamera Ausschau gehalten habe, weil er sich nicht vorstellen konnte, dass das mit rechten Dingen zuginge. „Er hat eingeschlagen wie eine Bombe“, sagt er. Weck kickte zwei Jahre in der ersten Mannschaft des TSV. Mit 52 Toren hatte er großen Anteil daran, dass der TSV Pattensen aufstieg und sich in der höheren Klasse hielt. „Er war für uns überqualifiziert – ein Lottogewinn“, sagt Marotzke.
2004 – nach einem Testspiel der Pattenser gegen Hannover 96 – erkundigte sich Lienen beim gegnerischen Coach nach Weck. „Reden Sie doch selbst mit ihm“, entgegnete Beilhardt und holte Weck mit den Worten „da möchte dich jemand sprechen“ heran. Ein Dreivierteljahr später heuerte der junge Mann erneut bei 96 an, er war zunächst für die Reserve vorgesehen, ehe er schnell im Bundesliga-Kader mittrainierte. Sein Studium unterbrach er, um sich auf Fußball zu konzen¬trieren. „Zweijahresplan“ nennt Weck das. 24 Monate, um den Sprung zum Profi zu schaffen – oder eben nicht. Lienen traute dem Neuen viel zu und ließ ihn zur Vorbereitung sogar den Schlüsselspieler des Hamburger SV, Sergej Barbarez, imitieren. „Ich hatte anfangs nach jedem Training Ränder unter den Augen und habe mich erschrocken, wie ich aussehe“, berichtet Weck. „Mein Körper war nicht so schnell auf diesem Level.“
Schlechte Note für Weck
Der Bus ist nun fast am Ziel. Das Flutlicht des Aachener Stadions leuchtet weit in die Dunkelheit des Herbsttages. Dumpf dringen Fangesänge ins Wageninnere. „Sonst stand ich immer da draußen, und auf einmal sitze ich im Bus“, sagt Weck. Nicht die einzige Umstellung: Beim Einlaufen trommeln Zuschauer auf den Spielertunnel, Kinder mit Alemannia-Schal beleidigen Weck mit obszönen Gesten, als er zum Ausführen eines Eckballs trabt. Bis zu seiner Auswechslung in der 56. Minute sind Ecken und Freistöße die Sache des Rechtsfußes. Zwar zieht 96 als klassenhöheres Team durch einen 2:1-Erfolg in die 3. Runde ein, doch der Zweitligist bestimmt das Spiel. Vor allem einer guten Leistung Enkes ist es zu verdanken, dass der Sieger Hannover heißt. Entsprechend fallen die Kritiken aus. „Der Schlechtere gewinnt“, titelt die Hannoversche Allgemeine Zeitung.
Auch der Debütant kommt nicht gut weg. „Erste Bewährungsprobe im Profiteam – das war für Weck eine Nummer zu groß“, lautet die Einzelbewertung – Note 4,5. „Ich weiß nicht, ob man von einem jungen Spieler direkt mehr erwarten kann“, sagt der heute 34-Jährige. Zumal zum Traumeinstand nur ein Hauch fehlt. Nach einem Spielzug über Vahid Hashemian und Hanno Balitsch verfehlt Weck den Ball am langen Pfosten knapp. „Wenn ich da das Tor gemacht hätte, wäre bestimmt vieles anders gelaufen“, sagt Weck. Am Tag danach steht sein Telefon nicht still. Journalisten und Spielerberater melden sich. Woher die auf einmal seine Nummer hatten? Weck zuckt mit den Schultern. Doch er blockt alles ab, entscheidet sich schließlich für Harun Arslan als Berater, der mittlerweile unter anderem Joachim Löw vertritt.

Bergab unter Neururer
Im Bundesliga-Spiel fünf Tage später bei Arminia Bielefeld steht Weck im Kader, eingewechselt wird er nicht. Hannover 96 verliert mit 1:4, Lienen gerät unter Druck. Dass er gegen Mainz 05 auf der Tribüne sitzt, kann Weck verschmerzen, schließlich ist sein Profivertrag mittlerweile ausgehandelt, der Trainer hat zudem versprochen, ihn mit ins Trainingslager nach Spanien zu nehmen. Auch die Mitspieler sehen Weck als Option an, wie er aus der rustikalen Grätsche eines Kollegen im Training schließt, der ihn offenbar als Konkurrenz fürchtet. 15 Tage nach dem Spiel in Aachen wird Lienen entlassen. Der Ex-Coach habe allen die Hand gegeben und für jeden persönliche Worte parat gehabt. „Du wirst deinen Weg machen“, sagt er zu Weck.
Unter Nachfolger Peter Neururer trainiert Weck zunächst weiter bei den Profis, wird jedoch noch vor dessen erstem Spiel aussortiert. Die Vertragsverhandlungen liegen plötzlich auf Eis, obwohl nur noch die Unterschriften fehlen. Die Absage für die Spanienreise folgt rasch. In der Zeitung liest der Aussortierte Neururers Aussage, er könne keine Touristen gebrauchen. Im Januar hätte Weck sich in der Sonne auf die Bundesliga-Rückrunde vorbereiten sollen, stattdessen zieht er sich in Hannover bei der Reserve einen Trümmerbruch zu.



Schulbank statt Reservebank
Erst im Sommer 2006 ist Weck wieder einsatzbereit, gehört aber nicht mehr zum erweiterten Kreis der Profis. Zwei Jahre hatte er sich gegeben, Mitte 2007 zieht er die Notbremse und verlässt den Verein. „Eine schwere Entscheidung, ge¬gen das Herz“, sagt Weck. An die Universität kehrt er nicht zurück, sondern beginnt eine Ausbildung und ein Studium bei der Sparkasse. Beides schließt er mit Bestnoten ab. „Dann habe ich eben beruflich voll durchgezogen“, sagt Weck. Dem Geldinstitut bleibt er treu und arbeitet heute beim Sparkassenverband Niedersachsen.
Fußball spielt Weck zunächst wieder in Pattensen, bei Eintracht Hiddestorf beendet er im Jahr 2013 still seine Karriere. Per Mertesacker bekommt fünf Jahre später die ganz große Bühne bei seinem Abschiedsspiel in der HDI-Arena vor 40 000 Zuschauern. Wieder anzufangen, könne er sich schon vorstellen, sagt Weck. Die Altherren des TSV hätten bereits um ihn geworben. „Wenn Per zurückkommt, komme ich auch“, sagt Weck mit einem Augenzwinkern. Doch erstmal steht ein anderer Termin an. Die Hochzeit mit seiner Freundin Stefanie Grimm. „Wäre ich Profi geworden, hätten wir wohl nicht wieder zusammengefunden“, sagt Weck. Die beiden standen sich schon damals nahe, des Fußballs wegen hatte Weck jedoch keine Ressourcen für eine Bindung. „Ich bin froh, dass ich aus dieser fiktiven Welt ins wahre Leben zurückgefunden habe. Ich bin meinen Weg gegangen“, sagt er.
Noch in Aachen sucht Enke das Gespräch mit Weck. „Hast du gut gemacht“, lobt er. „So einen Spieler brauchen wir.“ Weck nimmt im Bus seinen Platz neben dem Torhüter wieder ein. Das Fahrzeug fährt an. Es geht zurück nach Hannover.
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