Leipzig. 22 Punkte aus 17 Spielen: Vor dem Rückrundenstart gegen bärbeißige Mainzer (Sonnabend, 15.30 Uhr) dümpelt Vizemeister RB Leipzig weit hinter den Erwartungen auf Platz zehn. Club-Chef Oliver Mintzlaff, 46, wirft im exklusiven Interview einen kritischen Blick zurück und einen hoffnungsvollen nach vorne.
SPORTBUZZER: Sie haben Jesse Marsch durch Domenico Tedesco ersetzt. Der 1,0-Absolvent des Fußballlehrer-Lehrgangs soll schnell Ja zu Ihrer Offerte gesagt haben.
Oliver Mintzlaff: Wir sind natürlich weiterhin trotz einer schwachen Hinrunde ein Top-Club in der Bundesliga und interessant für viele Trainer aus dem In- und Ausland. Domenico war und ist begeistert von unserem fantastischen Kader und den Bedingungen hier vor Ort, mit denen er das volle Potenzial der Mannschaft abrufen kann. Er ist intelligent, fleißig, ein Menschenfänger und hat ein klares Verständnis einer Spielidee. Domenico hat auf seinen bisherigen Stationen gezeigt, dass er Mannschaften klar besser macht.
Marco Kurth gehört dem Trainerteam auf Tedescos Wunsch hin nicht mehr an. Musste das sein?
Marco ist ein toller Trainer und hat gut zu uns gepasst. Wir hätten uns natürlich alle gewünscht, dass die Reise mit ihm im Profi-Trainerteam weitergeht. Aber Domenico hat einen klaren Cut gewünscht, und das haben wir zu respektieren. Es ist jetzt Zeit für Klarheit und absoluten Fokus.
Supertalent Ilaix Moriba ist bisher kaum in Erscheinung getreten. Kommt da noch was?
Auch wenn das einige Medien anders sehen, kommen wir bei Ilaix auch nach sechs Monaten nach wie vor zu der Bewertung, dass der Junge ein riesiges Potenzial hat und auf seiner Position zu den Besten seines Jahrgangs gehört. Übrigens gehörte nicht nur Tottenham zu den Clubs, die ihn haben wollten und ihm dafür mehr Geld als wir geboten haben. Er wollte von der ersten Kontaktaufnahme an nur noch zu uns. Wenn Ilaix vom Afrika-Cup zurückkommt, wird das Trainerteam intensiv mit ihm arbeiten.

Das Thema Disziplin soll nicht nur bei Moriba verbesserungswürdig sein. Gibt es den Bedarf der Nachjustierung?
Wir haben grundsätzlich eine charakterstarke Mannschaft, müssen aber vor dieser wichtigen Rückrunde viele Dinge reflektieren und Einiges verbessern. Disziplin ist natürlich ein Thema, das auf Domenicos Agenda steht. Mein momentaner Eindruck ist, dass alle im Verein den Eindruck der Hinrunde vergessen lassen wollen und den Kopf eben nicht in den Sand stecken. Jetzt müssen wir aus der sportlichen Delle kommen.
Die Güte des Kaders wird unterschiedlich besprochen. Gut oder supergut?
Auch wenn andere eine andere Wahrnehmung haben, bin ich überzeugt, dass unser Kader zu den besten in der Liga gehört und unsere Scouting-Abteilung einen tollen Job gemacht hat. Dass wir unsere PS nicht auf die Straße bekommen haben, hat auch mit Verletzungen, Ausfällen und Corona zu tun. Natürlich tut es weh, wenn Spieler wie Konrad Laimer, Dani Olmo oder Yussuf Poulsen ausfallen.
Wie groß ist Ihre Verantwortung am Stand der Dinge?
Ich trage die Gesamtverantwortung und habe auch Fehler gemacht, sonst würden wir in der Bundesliga nicht auf Platz zehn stehen. Unser Anspruch ist es, ein Champions-League-Club zu sein und diesem Anspruch rennen wir gerade massiv hinterher. Jesse Marsch ist ein großartiger Mensch und richtig guter Trainer, der auch in Zukunft sehr erfolgreich arbeiten wird. Aber mit dem Wissen von heute war es ein Fehler, ihn zu verpflichten. Wir haben Jesse bewusst unter Vertrag genommen, mit voller Überzeugung, weil wir ein Stück zurück zur RB-DNA wollten. Dieser Schritt ist uns nicht geglückt. Im Übrigen hätten wir auch bei der Kaderzusammenstellung rückblickend ein Stück weit anders agieren müssen. Auch wenn der Trainer in jede Kaderentscheidung eingebunden war, können wir festhalten, dass wir für Jesses Spielstil beispielsweise Hee-chan Hwang eher hätten behalten müssen.
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Können Sie trotz der aktuellen Situation ruhig schlafen?
Ich hasse es zu verlieren. Natürlich war meine Stimmungslage schon deutlich besser. Aber ich verfalle jetzt hier nicht in Selbstmitleid. Wir alle werden mehr denn je Energie reinstecken, um das Schnellboot RB Leipzig wieder auf Kurs zu bringen.
Gibt es Zu- oder Abgänge im Winter?
Das liegt eher im Bereich des Unwahrscheinlichen, es gibt keinen Aktionismus.
Die Stadien bleiben vorerst ohne Zuschauer. Wie gehen Sie damit um, und wie hoch sind die Einnahmeverluste?
Das ist nach wie vor echt bitter für uns und die Fans. Ein Spiel im leeren Stadion ist ein Trauerspiel. Wir alle müssen uns die Frage stellen, ob die Fans nach der Pandemie alle zurückkommen. Wir versuchen, den Kontakt zu unseren Fans so gut es geht aufrechtzuerhalten, Fanarbeit ist in Zeiten wie diesen besonders wichtig. Wir wollen und müssen gemeinsam durch diese Krise. Insgesamt fehlen uns bisher 60 Millionen Euro, das aktuelle Jahr und die fehlenden Zuschauereinnahmen nicht eingerechnet. Das sind dramatische Verluste.
Wann kommt er denn nun, der sagenumwobene Sportdirektor?
Vorneweg: Markus Krösche hat bei uns einen sehr guten Job gemacht. Dennoch haben wir beide beschlossen, uns neu aufzustellen. Ich bin ja schon froh, dass Sie nicht fragen: ‚Holen Sie überhaupt noch einen Sportdirektor?‘ Wie bereits gesagt, übernehme ich hier die Verantwortung und lasse mich nach 22 Punkten aus 17 Spielen völlig zu Recht kritisieren. Was mich bei der allgemeinen Berichterstattung zum Sportdirektor grundsätzlich stört, ist die Tatsache, dass entweder nicht zugehört oder absichtlich weggehört wird. Ich habe vom ersten Tag an gesagt, dass wir einen Sportdirektor holen werden. An dieser Aussage hat sich bis jetzt nichts geändert. Allerdings sind wir dafür bekannt, dass wir klare Personalentscheidungen treffen. Ein Zeichen dafür ist die geringe Fluktuation, die wir im gesamten Klub haben. Der Sportdirektor wird spätestens zur neuen Saison bei uns sein. Gehen Sie davon aus, dass wir jemanden verpflichten mit großer Kompetenz, langjähriger Erfahrung, Ausstrahlung und internationalem Netzwerk.
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Sonderlich knapp war es nicht. 13 Punkte Rückstand trennten RB in der Endabrechnung der Saison 202/21 vom Rekordmeister, auch weil ab dem 27. Spieltag (0:1 gegen den FCB) nur noch zwei Siege gelangen (4:1 in Bremen, 2:0 gegen Stuttgart). ©
Wie blicken Sie auf die schlechteste Hinrunde der RB-Bundesliga-Historie?
Es gab wenige Highlights wie das 5:0 in Brügge, das 2:1 gegen Dortmund oder das 4:1 gegen Gladbach. Aber es gab auch ganz viele Enttäuschungen. Und leider sind wir mit zwei solcher Enttäuschungen in die Winterpause gegangen. In Augsburg hätten wir eigentlich 4:1 gewinnen müssen und haben doch nur einen Punkt mitgenommen. Und das 0:2 gegen Bielefeld hatte nichts mit fußballerischer Klasse, sondern mit fehlender Mentalität zu tun. An manchen Tagen schlägt Mentalität Klasse. Das war so ein Tag. Das darf uns einfach nicht passieren, da muss mehr Leidenschaft rein.
Mainz hat im Sommer 1:0 gegen RB gewonnen …
… hochverdient gewonnen. Das ist eine Mentalitätsmannschaft, man sieht eindeutig die Handschrift von Bo Svensson. Die Mannschaft hat Biss, sich fußballerisch klasse entwickelt und einen klaren Plan. Die Spieler folgen diesem Plan. Es wird eine sehr schwierige Aufgabe.
Steht das Ziel Champions-League-Qualifikation zur Disposition?
Wir korrigieren unsere Ziele nicht, wissen aber, dass wir eine fantastische Rückrunde mit einem Zweier-Schnitt brauchen. Ein Riesenkraftakt. Und selbst mit dem besagten Zweier-Schnitt wäre unklar, ob 56 Punkte für einen Platz unter den ersten Vier reichen.
Mario Gomez steigt bei Red Bull ein. Zufrieden, froh und glücklich?
Absolut! Wir sind froh, dass er ab sofort Teil des Fußball-Kosmos von Red Bull wird. Mario kennt das Geschäft von vielen Seiten, hat nicht nur Höhen, sondern auch Tiefen erlebt. Ganz Deutschland hat ihn als Super-Mario gefeiert, in der Zeitung wurde er als Gurken-Gomez niedergeschrieben. Er war ein Weltklassespieler, hat Expertise, ist intelligent, hat Ausstrahlung und ein riesiges Netzwerk.
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