Hans-Jürgen Gröschel kann gar nicht anders, als anzupacken. Auch wenn sein Körper ihm signalisiert, es etwas ruhiger angehen zu lassen. Es sind nur noch wenige Tage, die er in seinem Galoppstall auf der Neuen Bult in Langenhagen als Chef das Sagen hat. Aber von Müdigkeit keine Spur. Gröschel packt überall mit an, gibt Anweisungen an seine Mitarbeiter, schimpft und schmeichelt, schleppt Ausrüstung durch den Stall, schiebt Schubkarren über den Hof.
Als der frisch zum Wallach gestutzte Rufolo sich nach dem Training nur widerwillig die Innenseiten der Hinterbeine abduschen lassen will, kommt Gröschel hinzu und beruhigt den Zweijährigen einfühlsam mit einer seiner typischen Charmeoffensiven. „Ja, mein Guter. Wir machen dich schön sauber, damit sich nichts entzündet. Es passiert nichts, ist ja gut“, redet Gröschel dem Vierbeiner ins Ohr, während ein Pfleger mit dem Wasserschlauch hantiert.
„Hoch das Bein und mitgemacht, wirst du auch nicht ausgelacht“, reimt Gröschel und macht dem Wallach weiter Mut, die Reinigungsprozedur als Wellnessmaßnahme zu begreifen.
Fußballverletzung von früher plagt ihn jetzt
Gröschel führt das Pferd zurück in den Stall. Der 77-Jährige zieht dabei sein rechtes Bein nach. Wie schon das ganze Jahr über. Es ist keine Folge des Herzinfarkts im Januar. „Arthrose“, sagt Gröschel und erzählt, wie er als knapp 30-Jähriger Fußball spielte, ein Tor erzielte, der Torwart ihn aber noch umgrätschte und Gröschel dabei einen Schien- und Wadenbeinbruch zufügte. Operation und Reha verliefen damals nicht optimal. Jetzt, fast 50 Jahre später, meldet sich das Fußgelenk und zickt herum. Das passt Gröschel überhaupt nicht. „Der Huf tut weh“, stöhnt er.
Die Schmerzen überlagern die Rücken- und Schulterprobleme, die Gröschel durch die harte Stallarbeit seit Jahren plagen. Von seinem rechte Auge ganz zu schweigen. Seit seinem Horrorunfall 2008 in Düsseldorf, als ihn ein Galopper bewusstlos trat und mit dem Huf das Gesicht zertrümmerte, inklusive mehrfachen Kieferbruchs, Jochbein-, Nasenbein- und Augenbodenbruchs, hat er auf dem Auge nur noch etwa 50 Prozent Sehkraft.



"Der Abschied fällt mir schwer"
Es sind einfach zu viele Baustellen geworden. Gröschel zieht Konsequenzen. Am Ende des Jahres beendet er seine erfolgreiche, 47 Jahre andauernde Karriere als Galopptrainer. Öffentlich gemacht hat er das im Spätsommer. Der Gedanke spukte aber schon länger in seinem Kopf herum. Die glorreichen Jahre mit Superhengst Iquitos 2016, 2017 und 2018 motivierten ihn, doch noch ein wenig dranzuhängen. Im Spätherbst seiner Laufbahn drehte Gröschel noch einmal richtig auf, sahnte seine größten Erfolge ab. Die Liebe zum Sport fließt unaufhaltsam durch seine Adern. Sein Herz blutet bei dem Gedanken aufzuhören.
„Der Abschied fällt mir schwer“, sagt Gröschel mit bewegter Stimme. Seine Augen werden feucht. „Geistig bin ich fit. Es ist eine rein körperliche Sache. Es geht einfach nicht mehr.“ Seine Frau Renate (75) würde immer schimpfen, wenn er selber so viel schimpft und seine körperlichen Wehwehchen verflucht. „Sie sagt dann immer: Du bist fast 80 und wunderst dich, wenn der Körper was hat?“

Herzinfarkt auf Gran Canaria
Anfang des Jahres, im Januar, hatte der Körper ein bisschen mehr. Herzinfarkt auf Gran Canaria, am letzten Tag des dreiwöchigen Urlaubs. Gröschel ging noch einmal ins Meer, was er so liebt. Danach auf dem Zimmer, während seine Frau die Koffer packte, verspürte er „Schmerzen in der Brust“. Todesangst befiel ihn. „Ich dachte, ich fahre ab.“ Doch Gröschel agierte, rief seinen Hausarzt in Hannover an, beschrieb die Symptome. Die Sache war klar: Herzinfarkt. Noch im Hotel legten ihm die Notärzte eine Infusion. OP ein paar Tage später. Alles andere als ein Traumstart ins Jahr, aber der schnell handelnde Gröschel hatte Glück im Unglück.
Er ließ sich nicht unterkriegen. Die Saison wollte er noch packen. In der Hoffnung auf den einen oder anderen großen Sieg. Und um seine seit Jahren feststehende Nachfolgerin Janina Reese am Stall weiter einzuarbeiten. Damit geht die Gröschel-Ära im Turf zu Ende, die im Jahr 1890 begonnen hatte. Im April starb sein Bruder Eckhart, langjähriger Trainer in Hoppegarten, im Alter von 79 Jahren. Und Hans-Jürgen Gröschels Sohn Gunnar hat nicht wirklich etwas mit dem Rennsport zu tun.
"Eigentlich sollte ich was anderes werden"
Als kleiner Junge begleitete Hans-Jürgen Gröschel bei jeder Gelegenheit seinen Vater Hans, der die Trainertradition der Familie auch nach dem Zweiten Weltkrieg fortgeführt hatte. 1943, mitten in den Kriegswirren, war Hans-Jürgen Gröschel in Dresden auf die Welt gekommen. „Ich sollte ja eigentlich was anderes werden, aber meine kaufmännische Lehre habe ich mit 18 abgebrochen.“ Gröschel überzeugte seine Eltern, doch noch bei Pferden zu lernen. Die Liebe zum Rennsport siegte schon damals. Gröschel ging nach Hoppegarten und lernte am Graditzer Rennstall. Später legte er per Fernstudium noch seinen Abschluss als Agraringenieur für Pferdezucht und Pferdesport nach.
1973 übernahm er den Trainingsstall seines Vaters. Im Januar 1990 machte er sich in den geöffneten Westen und landete nach der kurzen Zwischenstation Hamburg in Hannover. Dort kam er am Stall Silbersee auf der Neuen Bult unter, 1991 machte er sich in der Trainingszentrale in Langenhagen selbstständig und siegte sich fortan durch die gesamtdeutsche Bundesrepublik. Am 29. August 2010 gelang ihm mit Fine Emotion der 1000. Treffer als Trainer – ausgerechnet in Hoppegarten. Er selbst sah den Sieg auf einem Monitor in Iffezheim, wo gerade die Große Woche stattfand. Hein Bollow und Bult-Kollege Christian Sprengel verpassten ihm eine Champagnerdusche.
Zwei Jahre später, am 14. Juli 2012, übertrumpfte Gröschel die Marke seines Vaters und stellte seinen Siegrekord auf 1087. Heute steht die Marke bei 1288. Kurios: Am 29. September 1990 hatte Satellit in Dortmund für seinen ersten Hannover-Treffer gesorgt. Fast genau 20 Jahre später, am 29. November 2020 holte er mit Igneo in Dortmund seinen aktuell letzten Sieg. Eben Nummer 1288.

Iquitos formte er zum Galopper des Jahres
Gröschel hatte immer starke Pferde im Stall, Gruppe-Sieger. Aber keiner war so groß und stark wie der kleine Iquitos. In keinen verliebte sich Gröschel mehr als in den Hengst, dem im Alter von drei Jahren ein Darmverschluss fast zum Verhängnis geworden wäre. Die Tierärzte retteten Iquitos in einer Not-OP das Leben. Gröschel päppelte ihn wieder auf und formte ihn zu Deutschlands „Galopper des Jahres“ 2016 und 2018.
Ein Gruppe-Sieg nach dem anderen, Gewinn der Champions League, zweifache Teilnahme am Japan-Cup in Tokio, Start beim wichtigsten Rennen der Welt, dem Prix de l’Arc de Triomphe in Paris – für Gröschel erfüllten sich mit dem Superhengst vom Gestüt Evershorst nebenan die kühnsten Träume aus DDR-Zeiten, als er sich gedanklich auf die berühmtesten Rennbahnen der Welt beamte. Er ist heute „sehr demütig und dankbar dafür“, dass er diese Sternstunden im hohen Alter noch erleben durfte.
„Ich habe mein Hobby zum Beruf gemacht. Aber mir ging es immer um den Sport, nicht ums Geld“, sagt er. „Ich wollte immer gewinnen.“ Was für Gröschel bei der Arbeit zählte, waren „Ordnung, Sauberkeit, Korrektheit“. Mitunter bekamen seine Mitarbeiter im Alltag und vor allem die Jockeys an Renntagen Ehrgeiz und Emotionen zu spüren, wenn es nicht so lief, wie Gröschel es sich vorstellte. Wenn etwas eben nicht in Ordnung war.
Er teilte gerne aus – weil es ihm um die Sache ging. Nach verbockten Ritten oder missachteter Reitorder landete er oft mit seinen Tiraden gegenüber den Reitern nahe der Gürtellinie, „es war aber nie persönlich“, betont Gröschel. „Ich möchte mich bei allen Jockeys entschuldigen, zu denen ich manchmal etwas streng war“, sagte er bei seinem Abschied Ende Oktober auf der Heimrennbahn in Langenhagen.
Wenige Wochen später herrscht grauer Alltag auf der Bult. Es regnet. Gröschels Socken werden nass, weil seine uralten Arbeitsschuhe total zerschlissen und löchrig sind. Von Scham keine Spur. Gröschel könnte sich natürlich locker neues Schuhwerk zulegen. „Aber keine sind so bequem wie diese hier“, sagt er und lacht. Für die paar Tage im Stall lohnt sich ein Neukauf tatsächlich nicht mehr.
Wobei: Gröschel will ja gar nicht ganz verschwinden. Das könnte er auch gar nicht. Nach der offiziellen Übergabe zum 1. Januar will er trotzdem regelmäßig im Stall vorbeischauen, vielleicht nicht mehr wie all die Jahre in aller Herrgottsfrühe. „Aber ich habe dann nicht mehr das Sagen, ich werde mich zähmen lassen müssen“, weiß Gröschel, der Nachfolgerin Reese mit Rat und – wenn es sein muss und der Körper es erlaubt – auch mit Tat zur Seite stehen will.



„Ich wünsche ihr viel Glück, dass Sie durch die schweren Corona-Zeiten kommt. Ich werde alles tun, damit sie erfolgreich sein kann“, sagt Gröschel. Erstes Ziel wird sein, so schnell wie möglich, viele kleinere Rennen zu gewinnen. „Dann kommt der Zulauf“ neuer Besitzer, weiß Gröschel. Die aktuellen Besitzer hätten signalisiert, dass sie bleiben und ihre Pferde auch im Reese-Trainingsstall lassen wollen. „Wenn Sie 30 Pferde zum Saisonstart nächstes Jahr hat, wäre das sehr schön.“
Dem Stall bleibt er erhalten, aber die Zeit auf den Rennbahnen wird Gröschel vermissen. „Renntage waren ja nicht nur Pferderennen, sondern auch Treffpunkte.“ Viele Freundschaften sind hier entstanden. Kein Wunder bei Gröschels Geselligkeit. Eine tiefe Freundschaft verbindet ihn mit dem ehemaligen 96-Trainer und Galoppfan Horst Ehrmantraut. „Er hat mir zu meinem Abschied eine ganz liebe Nachricht geschickt“, sagt Fußballfan Gröschel und zeigt sein Smartphone.
"Aufpassen, dass ich nicht in ein Loch falle"
Was er mit der vielen Freizeit demnächst anfangen will? Gröschel weiß es noch nicht so genau. Vielleicht ein bisschen Urlaub, wenn es wieder erlaubt ist. Vielleicht ein bisschen lesen, wenn die Augen es mitmachen. „Auf jeden Fall aber will ich mehr Zeit für meine Frau haben.“ 54 Jahre sind er und Renate schon verheiratet. „Sie hat mir immer den Rücken gestärkt und frei gehalten.“ Ihre Unterstützung wird er weiterhin brauchen. „Ich muss aufpassen, dass ich nicht in ein Loch falle“, sagt Gröschel nachdenklich. „Physisch und psychisch.“
Zu seinem letzten Rennbahnbesuch als Trainer durfte Renate Gröschel ihren Mann trotz Corona begleiten. Mitte November, Renntag in Dresden-Seidlitz. Gröschels Heimat, sein Ursprung. Bei der kleinen Abschiedszeremonie für ihn kämpfte er mit den Tränen. „Es geht mir nahe ...“, presste Gröschel heraus, als sich der Kreis für ihn schloss.
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