02. April 2021 / 18:59 Uhr

Nagelsmann und seine Auftritte an der Seitenlinie: "Kommt auch mal was zurück, wenn ich reinschreie"

Nagelsmann und seine Auftritte an der Seitenlinie: "Kommt auch mal was zurück, wenn ich reinschreie"

Guido Schäfer
Leipziger Volkszeitung
Julian Nagelsmann will seinen ersten Sieg mit RB gegen die Bayern.
Julian Nagelsmann will seinen ersten Sieg mit RB gegen die Bayern. © Getty Images
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Etwas Blechernes wünscht sich Julian Nagelsmann schon länger. In dieser Saison könnte es soweit sein. Im DFB-Pokal steht er mit RB Leipzig im Halbfinale. In der Bundesliga rangieren seine Jungs vier Punkte hinter dem FC Bayern. Der ist am Samstag in der Red-Bull-Arena zu Gast. Im SPORTBUZZER-Interview spricht der Coach über das Hansi-Flick-Team ohne Robert Lewandowski, seinen Vertrag ohne Ausstiegsklausel, Auftritte an der Seitenlinie und Trecker-Fahren.

Leipzig. Hinter Julian Nagelsmann war 2019 halb Europa her. Er sagte No zu Bayern, No zum BVB, No zu Real. Und Ja zu RB Leipzig und einem Vierjahresvertrag. Der Hochbegabte bleibt – Stand jetzt – bis 2023. Der SPORTBUZZER hat mit dem 33-jährigen Fußball-Trainer, dem man zutraut, übers Wasser zu gehen – und am Sonnabend, 18.30 Uhr, mit den Bullen die Bayern zu schlagen – gesprochen.

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SPORTBUZZER: Robert Lewandowski fällt für das Topspiel aus. Ein Vorteil für RB?

Julian Nagelsmann: Jede Mannschaft der Welt ist mit ihm besser. Er ist ein kompletter Stürmer, es macht Spaß, ihm zuzuschauen. Grundsätzlich wünsche ich mir, dass in einem Topspiel immer alle Topspieler dabei sein können. Auch wir können leider nicht in Bestbesetzung antreten.

Angelino und Marcel Halstenberg fehlen. Von Dominik Szoboszlai und Konrad Laimer ganz zu schweigen. Da fällt die fünfte gelbe Karte von Kevin Kampl besonders schwer ins Gewicht. War die Grätsche in Bielefeld unausweichlich?

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Wir hätten die Situation vorher besser lösen müssen, danach musste Kevin das Foul ziehen. Leider fehlt er uns gegen die Bayern.

Jeder andere Spielausgang als ein Sieg für Leipzig würde den Bayern den Roten Teppich zur neunten Meisterschaft hintereinander ausrollen.

Davon ist auszugehen. Wir wollen jedes Spiel gewinnen, auch gegen die beste Mannschaft in Europa. Man hat gegen Stuttgart gesehen, wie stark die Bayern sind. Fußballerisch und mental. Die Stuttgarter beginnen klasse, bei den Bayern fliegt Davies nach elf Minuten runter - und dann schalten sie den Turbo ein und nach dem 4:0 wieder aus. Zu zehnt. Bayern hat den besten Kader und die beste Mannschaft. Das heißt nicht, dass wir sie am Samstag nicht schlagen können.

Die erneute Qualifikation zur Champions League ist nahezu perfekt. Gibt das ein gutes Gefühl für Sonnabend?

Wir haben sechs Punkte mehr als zum gleichen Zeitpunkt im letzten Jahr. Damals mussten wir bis zum 33. Spieltag um die Champions League zittern. Die Ausgangslage ist besser und tut uns gut. Aber wir denken nicht: ,Klasse, jetzt haben wir gegen die Bayern nichts zu verlieren´. Man hat in jedem Spiel etwas zu verlieren. Punkte.

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Für Waldemar Hartmann sind Sie gottbegnadet, Ansgar Brinkmann nennt Sie den besten Bundesliga-Trainer, die Liste der Elogen wird lang und länger. Ist das noch schön oder sind Sie ab und an peinlich berührt?


Jeder wird lieber gelobt und gemocht als andersrum. Und, ja, ich freue mich, dass unsere und meine Arbeit anerkannt wird, auch wenn es mir wirklich manchmal etwas zu viel ist. Aber Ansgar hat im zweiten Teil seiner Einschätzung meine Klamotten in die Kreisliga-West verortet. Da hat er mich schnell wieder auf den Boden zurückgeholt (lacht)!

Trainer, die zarte 33 sind, firmieren in den allermeisten Fällen unter Trainer-Talent. Im Zusammenhang mit Ihnen fällt dieser Begriff eher selten.

Das könnte daran liegen, dass ich seit 2008 Trainer bin, meine fünfte Bundesliga-Saison coache und gewisse Erfahrungen gesammelt habe. Dass man als Mensch und Trainer nie ausgelernt hat, versteht sich von selbst. Ich weiß nicht, wann man den Status Talent verlässt.

Die Haudegen des Trainer-Geschäfts behaupten, dass Titel und eine Entlassung zur Vita eines wahren Übungsleiters gehören.

Ich fühle mich auch ohne Entlassung ganz okay. Gegen einen Titel hätte ich hingegen nichts einzuwenden...

Lieben Sie Ihren Beruf?

Ja.

Sind Sie glücklich?

Nochmal ja. Meiner Familie und mir geht es gut. Mein Familien- und Freundeskreis erdet mich. Die müssen nicht jeden Tag Fußball schauen. Ich habe sehr viel Kontakt zum normalen Leben. Es gibt bei allem Stress und Druck viele Momente, in denen ich mir bewusst mache, dass es ein großes Privileg ist, Bundesliga-Trainer zu sein und dass ich ein gutes Leben führe.

Auf der Insel der Glückseligen?

Das fühlt sich jedenfalls fast immer so an. Ich weiß, dass es aktuell vielen Menschen schlecht geht, dass viele gesundheitliche und/oder existenzielle Sorgen haben. Das ist auch Thema bei uns, wird diskutiert. Wenn wir helfen können, tun wir das, ohne alles an die große Glocke zu hängen.

Sie haben unlängst eine Familienfeier mit einer geschliffenen Videobotschaft zum 90. Geburtstag der Oma unvergesslich gemacht.

Es ist schön, mit kleinen Dingen eine Freude zu machen.

DURCHKLICKEN: Bilder vom Sieg gegen Bayern am 18. März 2018

Endlich hat es geklappt: RB Leipzig bezwingt Rekordmeister FC Bayern München in der proppevollen Red-Bull-Arena mit 2:1. Zur Galerie
Endlich hat es geklappt: RB Leipzig bezwingt Rekordmeister FC Bayern München in der proppevollen Red-Bull-Arena mit 2:1. © Getty Images

Gibt es Tage im Leben eines berühmten Trainers, an denen er keinen Bock hat, arbeiten zu gehen?

Ja, nach Niederlagen ist meine Laune beim Aufstehen nicht so doll. Aber nach dem ersten Kaffee geht es schon wieder. Ich trage Verantwortung, muss analysieren, motivieren, mitreißen. Das geht nicht, wenn ich mich mit einem dicken Hals durchs Trainingszentrum schleppe. Ich habe viel Energie, empfinde den Beruf in all seinen Facetten nie als Belastung.

Hätten Sie Verständnis, wenn Spieler XY eine Einheit ausfallen lässt, weil der Bio-Rhythmus klemmt?

Wenn ein Spieler sich mal nicht in der Lage sieht, mitzutrainieren, soll und kann er mir das sagen. Kann ja sein, dass das Baby, der Papa und die Mama nachts nicht geschlafen haben. Bisher ist das aber sehr selten vorgekommen.…

Die Jungs gehen dann wohl eher zum Physiotherapeuten, der einen zumachenden Muskel diagnostiziert und eine freie Einheit empfiehlt.

Das würde ich keinem unterstellen, das sind gute Jungs. Bei Ihnen zu Ihrer aktiven Karriere wäre ich mir da aber nicht so sicher, Herr Schäfer.

Apropos: Wie stehen Sie zu Widerworten Ihrer Spieler?

Es kommt schon auch mal was zurück, wenn ich von der Seitenlinie aus reinschreie. Nordi ist so ein Kandidat. Das ist völlig ok, die Spieler haben einen 180er Puls, da darf man nicht jedes Wort auf die Goldwaage legen und Emotionen gehören dazu, sind gut und wichtig.

Wohin entwickelt sich der Fußball? Ist das Thema Athletik ausgereizt?

Selbst da geht noch einiges, der Fußball in der Premier League ist deutlich athletischer als der bei uns.

Das, was sich zwischen den Ohren abspielt, ist ein Steckenpferd von Ihnen.

Kein Mensch nutzt seine Gehirn-Areale auch nur ansatzweise komplett, bei den kognitiven Fähigkeiten liegt Vieles brach, ist Vieles möglich.

Über allem schwebt die Handlungsschnelligkeit.

Die Spieler haben immer weniger Zeit und Raum, um sich zu orientieren und um richtige Entscheidungen zu treffen. Da ist Handlungsschnelligkeit das A und O.

Auf dem Weg ins kognitive Glück ist unter Ihrer Fuchtel kontrolliertes Chaos angesagt. Die Anforderungen im Training werden auf die Spitze getrieben, sollen sich in den Köpfen ausprägen.

So ist es.

LVZ-Direktabnahme

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Der Spaßfaktor fällt bei der Wiederkehr des ewig gleichen Trainingsinhaltes aber hinten runter, oder?

Nicht alles, was dich nach vorne bringt, macht nur Spaß. Es gibt bei bestimmten Übungen viele Regeln und viele Wiederholungen.

Das alles sei extrem fordernd für Körper und Geist, sagt Ihr Kapitän Marcel Sabitzer.

Da hat er Recht. Meine Jungs mussten lernen, das zuzulassen, bereit zu sein für ungewohnte Inhalte. Wenn ich  ihnen drei Dinge vorgebe und sie merken sich drei, ist das gut. Wenn sie sich von zehn fünf merken, ist es besser. Ein Muskel braucht ja auch ständig neue Impulse, um leistungsfähiger zu werden. Wenn sie jeden Tag viereinhalb Liegestütze machen, können sie die auch ganz weglassen.

Beim 1:0 in Bielefeld gab es eine Orgie an Ballstafetten. Da braucht es auch am Fernseher viel Geduld, Herr Nagelsmann.

Ballbesitz ist nie Selbstzweck, dient immer als Vorbereitung zum Erspielen von Torchancen. Uns allen wäre es lieber gewesen, wenn in Bielefeld nach zehn Minuten einer reingegangen wäre und sich mehr bespielbare Räume aufgetan hätten.

Wie sieht ein perfekter Spieltag für Sie aus?

Wenn die Spieler alles umsetzen und wir drei Punkte holen.

Und wie gefällt es Ihnen, wenn ein Spiel nach tiefem Nagelsmannschen Griff in den Maschinenraum umgebogen wird?

Umstellungen bringen Stress und Unwägbarkeiten mit sich. Wenn sie den gewünschten Effekt bringen, ist alles klasse. Wenn nicht, habe ich kein Problem zu sagen: ,Sorry, mein Fehler, war ne blöde Idee.´

Haben Sie schon mal ein perfektes Spiel gecoacht?

Ja, mit der Hoffenheim U19 haben wir mal bei Bayern München 6:0 gewonnen – und es war alles dabei. Wir haben Tore aus dem Pressing erzielt, aus dem Gegenpressing, per Standards, auch eins per Weitschuss, mit einer Flanke vorbereitet, und eines via Abstauber. Das fühlte sich ziemlich gut und, ja, perfekt an.

Wie nehmen Sie Ihre Trainer-Kollegen an der Seitenlinie wahr?

Manchmal wundere ich mich, wenn sich einer tierisch über einen Einwurf an der Mittellinie aufregt. Und eine Minute später flippe ich genau wegen so einem Einwurf selbst aus.

Sie mussten mit 20 verletzungsbedingt aufhören. Trauern Sie einer Karriere als Profifußballer hinterher?

Nein. Ich habe einen wunderbaren Beruf – alles gut.

Wie lange sitzen Sie noch auf der Leipziger Trainerbank?

Mein Vertrag läuft bis 2023. Den habe ich freiwillig unterschrieben.

Hat die finanzielle Unabhängigkeit einen besseren Trainer aus Ihnen gemacht? Stichwort Selbstbestimmtheit.

Ich war schon als Jugendtrainer keiner, der darüber nachgedacht hat, wie diese oder jene Entscheidung oder Aufstellung von der Chefetage aufgenommen wird.

Stimmt es, dass Sie sich einen Traktor gekauft haben und damit Feld, Wald, Wiese in Bayern unsicher machen?

Den Traktor habe ich schon länger. Ansgar Brinkmann hätte seine reine Freude. Nagelsmann in Engelbert-Strauss-Klamotten (Berufsbekleidung, rustikale; Red.) auf dem Traktor.

Was werden Sie mit 60 Jahren so treiben? Trecker fahren?

Jedenfalls nicht mehr an der Seitenlinie stehen.

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