Adrien Rabiot flankte von der linken Seite, Ousmane Dembélé legte den Ball mit dem Kopf in die Mitte, und dann war sie da für Olivier Giroud – die goldene Chance, das WM-Viertelfinale gegen England zu entscheiden. Der französische Mittelstürmer nahm den Ball direkt, zentrale Position, keine zehn Meter vor dem Tor, doch Englands Keeper Jordan Pickford parierte. Die Gelegenheit war dahin, es blieb beim 1:1 in der 77. Minute. Frankreich musste weiterzittern, doch Giroud blieb zuversichtlich. "Ich wusste, dass ich noch eine Chance bekomme. Und so war es dann auch", sagte er auf der Pressekonferenz nach dem Spiel, die er als Mann des Abends besuchte, als derjenige, der den Unterschied gemacht hatte in der bisher wohl besten Partie der WM in Katar zwischen Frankreich und England.
Eine Minute nach seiner vertanen Gelegenheit kam der Ball wieder in die Mitte, diesmal nach einer Flanke von Antoine Griezmann von links. Giroud wurde von drei Engländern bewacht, kam trotzdem zum Kopfball, Harry Maguire fälschte ab, diesmal hatte Pickford keine Chance. Das Tor bedeutete den 2:1-Endstand, den Einzug des Weltmeisters von 2018 ins Halbfinale gegen Marokko am Mittwoch (20 Uhr, ZDF und Magenta TV). Es war ein glücklicher Sieg für die Franzosen, aber am Ende zählte nur das Ergebnis, wie auch Giroud wusste: "In solchen Spielen entscheiden Details." Das entscheidende Detail war er selbst.
Benzema-Verletzung beförderte Giroud in die Startelf
Wenn über Frankreichs Aussichten auf den zweiten WM-Titel nacheinander gesprochen wird, geht es vor allem um Kylian Mbappé, die 23 Jahre junge Naturgewalt, die beim Turnier in Katar schon fünfmal getroffen hat. Doch er ist nicht der einzige Profi in der französischen Auswahl, der Spiele gewinnen kann. Giroud, 36 Jahre alt und beim AC Mailand angestellt, kann das ebenfalls. Er schreibt bei der WM eine besondere Geschichte. Denn eigentlich war er nur für eine Nebenrolle vorgesehen. Weltfußballer Karim Benzema sollte in der Sturmspitze glänzen, flankiert von Mbappé und Dembélé. Dann verletzte sich Benzema am linken Oberschenkel, Giroud kam in die Mannschaft – und leistet Historisches. Mit seinem Tor beim 3:1 im Achtelfinale gegen Polen, seinem 53. für "Les Bleus" überholte er Thierry Henry als Rekordtorschützen der Franzosen.
Giroud war schon 2018 dabei, beim WM-Triumph in Russland. Damals blieb er ohne Treffer, was ihn unter Rechtfertigungsdruck setzte. Sein Beitrag zum Erfolg war dennoch offensichtlich. Er bereitete Tore vor, riss Räume für Mbappé und Griezmann, ließ andere glänzen. In Katar glänzt er selbst, traf zweimal beim 4:1 zum Start gegen Australien und je einmal in den K.-o.-Spielen gegen Polen und England. Mit seinen Toren gewinnt er die Anerkennung, die ihm lange vorenthalten worden war. "Die Franzosen lieben ihn nicht, aber jetzt verehrt ihn jeder, sogar diejenigen, die ihn kritisiert haben – und ich sehe einige davon hier im Raum", sagte Trainer Didier Deschamps kürzlich an die Adresse der heimischen Journalisten.
Es ist seltsam: Giroud ist einer der langlebigsten Stürmer im französischen Fußball, neuerdings hält er den Rekord als bester Schütze in der Geschichte der Nationalmannschaft, richtig anerkannt wird der einstige Profi des FC Arsenal und des FC Chelsea aber erst jetzt. Und er könnte seine Beliebtheit in der letzten WM-Woche noch steigern, falls er Frankreich zur erfolgreichen Titelverteidigung schießen würde. Die Voraussetzungen sind gut. Giroud selbst jedenfalls sagte nach dem Sieg gegen England: "Unsere Mentalität erinnert mich an 2018."