Mit einem insgesamt neunköpfigen Team von Analysten hat der ehemalige Augsburger und Schalker Bundesliga-Trainer Manuel Baum alle 64 Spiele der Weltmeisterschaft in Katar aus taktischer Perspektive beleuchtet. Im Interview mit dem SPORTBUZZER, dem Sportportal des RedaktionsNetzwerks Deutschland (RND), verrät der 43-Jährige, was ihm in den vergangenen Wochen besonders aufgefallen ist. Er blickt noch einmal auf das spektakuläre Finale mit den Protagonisten Lionel Messi und Kylian Mbappé zurück und setzt sich zudem kritisch mit der Situation im deutschen Fußball auseinander.
SPORTBUZZER: Herr Baum, 64 Spiele sind gespielt, Argentinien ist Weltmeister – wie bewerten sie die WM in Katar aus taktischen Gesichtspunkten?
Manuel Baum (43): "Es hat vieles von dem bewahrheitet, was ich mir im Vorfeld gedacht habe. Mangels Vorbereitung gab es nur wenige taktische Neuerungen – gerade in der Offensive oder auch bei Standardsituationen. Der Schwerpunkt lag vornehmlich auf der Defensive. Interessant fand ich zu beobachten, welche wichtige Rolle Softskills wie Einsatzbereitschaft und Entschlossenheit gespielt haben. Bei den drei Halbfinalisten Argentinien, Kroatien und Marokko haben die Spieler das Gefühl vermittelt: 'Wenn ich mein Trikot anziehe, reiße ich alles nieder!' Das kann wichtiger sein als irgendeine Taktik. Bei den Argentiniern kam hinzu, dass sie den Individualisten Lionel Messi zugelassen und für ihn gearbeitet haben."
Ein Verdienst von Weltmeister-Trainer Lionel Scaloni. Wie wichtig war er für den Titelgewinn?
"Für mich hat er einen ähnlich großen Anteil am Titel wie Messi. Scaloni hat defensiv sehr flexibel agieren lassen. Er hat mal mit einem 5-3-2, dann mit einem 4-1-2-3 und im Endspiel am Ende mit einem 4-4-2 agiert. Trotzdem hat sich jeder Spieler in dem System immer wiedergefunden. So blieb es ein 'Spielerspiel' und wurde nicht zum 'Trainerspiel'. Daher waren die Argentinier für mich am beeindruckendsten. Frankreich hat hingegen immer auf ein mehr oder minder gleiches Konzept gesetzt. Trainer Didier Deschamps hatte die Herausforderung, dass er noch mehr Individualisten hatte."
Mit dem dreifachen Final-Torschützen Kylian Mbappé als tragischem Helden...
"Mbappè war für die Mannschaft natürlich ein Vorteil – aber auch ein Nachteil, weil er auf dem Flügel kaum nach hinten gearbeitet und nur wenige defensive Zweikämpfe geführt hat. Wahrscheinlich kann man sich so einen Spieler nur in einer zentralen Offensivposition leisten. Auch das haben die Argentinier gezeigt. Im Gegensatz zu Mbappé war Messi meist auf der Neun oder Zehn unterwegs."
Abgesehen von diesen Superstars – welchen WM-Spieler würden sie als Trainer sofort für Ihre Mannschaft verpflichten wollen?
"Enzo Fernandez. Er ist eine Entdeckung der Weltmeisterschaft und mein Spieler des Turniers. Er ist defensiv sehr gut und zudem offensiv spielstark. Das ist ein junger Mentalitätsspieler mit viel Potenzial. Selbst im WM-Finale wirkte er von der großen Bühne komplett unbeeindruckt. Ich denke, dass man ihn nicht mehr lange bei Benfica Lissabon sehen wird."
Kommen wir zur deutschen Mannschaft – Sie sprachen die 'Softskills' der Halbfinalisten an...
"Wir haben in den Bereichen Widerstandsfähigkeit und Leidenschaft in den vergangenen Jahren viel verpasst. Es macht aber keinen Sinn, über einzelne Personen zu reden. Man muss sich das gesamte System einmal anschauen und fragen: Warum haben wir eine 'Konjunktiv-Mannschaft' und kein Team, das auf dem Feld Fakten schafft?"
Wie lautet Ihre Antwort?
"Da muss man ein wenig weiter ausholen. Es geht im Nachwuchs los. Wir konzentrieren uns dort in Richtung Breitensport und lassen Leistungsorientierung fast nicht mehr zu. Aber es muss beides mit einem fließenden Übergang geben. In der Ausbildung werden immer mehr Widerstände aus dem Weg genommen. Dabei wächst man an Widerständen und entwickelt eine Persönlichkeit. Das, was wir von unserer Nationalmannschaft gesehen haben, ist ein ganzheitliches Problem."
Wie kann man dieses lösen?
"Wenn es Konzepte gibt, tendiert man in Deutschland dazu, zu jeder Lösung ein Problem zu finden. Das macht es schwierig. Wir müssen uns jetzt für einen Weg entscheiden – auch wenn man es dann vielleicht nicht jedem recht machen kann. Es geht nicht nur um die Nationalmannschaft. Man muss mittel- und langfristige Strategien für alle Bereiche herausarbeiten. Dabei ist nicht der DFB allein in der Verantwortung, sondern der gesamte deutsche Fußball. Trainer, Vereine, Verbände, Berater - zerren so viele Leute an dem Tanker Fußball. Leider immer wieder in unterschiedliche Richtungen. So kommt man nicht vom Fleck und andere ziehen vorbei. Es braucht eine gemeinsame Linie, bei der kein Ich im Vordergrund stehen darf."
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