Stefan Kießling (34) war einer der besten deutschen Stürmer. Von 2002 bis 2018 absolvierte er 403 Bundesliga-Spiele für den 1. FC Nürnberg und Bayer Leverkusen, erzielte 144 Treffer (Platz 17 in der ewigen Torschützenliste). Fürs DFB-Team machte er jedoch nur sechs Spiele – obwohl er 2013 Torschützenkönig und 2010 und 2013 Deutschlands Fußballer des Jahres wurde. Im Mai beendete er seine Profikarriere, seit Oktober arbeitet er bei Bayer als Assistent der Geschäftsführung.
Herr Kießling, die Nationalmannschaft hat ein schwieriges Jahr hinter sich. Eines der größten Probleme war, dass die einstige Stürmernation Deutschland keinen Knipser mehr hat. Wie sehen Sie die Problematik?
Ich erinnere mich an die Zeit, als die Diskussion um die „falsche Neun“ aufkam, an der ich in der Nationalmannschaft ein Stück weit gescheitert bin. Der klassische Mittelstürmer war nicht mehr gefragt. Heute sucht beinahe jeder Klub einen Stürmer, der groß ist, die Bälle behaupten kann und im Strafraum Präsenz zeigt. Bloß finden sich in Deutschland kaum welche.
Ist das ein Ausbildungsproblem?
Wenn ich den Kids zusehe, dann wollen sie vor allem Tore schießen. Warum wir in Deutschland dennoch kaum noch richtige Mittelstürmer hervorbringen, ist mir ein Rätsel. Mir fallen nur Mario Gómez, Nils Petersen und Sandro Wagner ein. Alle drei sind bereits um die 30.
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Kießling: Jugendspieler sind teilweise zu verspielt
Fehlt dem einen oder anderen jungen Spieler der Ehrgeiz, sich so zu quälen, wie Sie das getan haben?
Den Ehrgeiz möchte ich keinem absprechen. Vielleicht geht der eine oder andere es falsch an. Ein Beispiel: Es gibt auf den Außenbahnen hervorragende Spieler. Am liebsten aber wollen sie den Ball in den Fuß gespielt bekommen, um, möglichst spektakulär, zwei, drei Gegner auszuspielen. Funktioniert das nicht, musst du nach hinten mitarbeiten und einfach spielen. Diese Bereitschaft fehlt mir heute ein wenig.


Sind die Jungen zu verwöhnt?
Vielleicht, aber das wäre nicht nur ihre Schuld. Macht einer drei, vier gute Spiele am Stück, wird er von den Medien so überhöht, dass er sich für den nächsten Star hält. Meine Anfangszeit in Leverkusen war schwierig. Man hatte mich als Stürmer geholt, aber ich konnte anfangs nicht das zeigen, was man von mir erwartet hatte. Was also hat mein damaliger Trainer, Michael Skibbe, getan? Er hat mich als rechten Mittelfeldspieler aufgestellt. Skibbe wusste, dass ich alles daransetzen würde, die Seite dicht zu machen. Das ist mir gelungen, und plötzlich habe ich meine Tore gemacht. Als ich später im Sturm aufgestellt wurde, lief es auch dort. Manchmal muss man einen Schritt zur Seite machen, um ans Ziel zu gelangen.
So ging es für Kießling nach seinem Leverkusen-Abschied weiter
Sind Sie nach 16 Profijahren in ein Loch gefallen?
Überhaupt nicht. Selbstverständlich war ich gespannt, was an diesem Tag mit mir passieren würde. Der Abschied war auch sehr emotional, ich hatte Gänsehaut und Tränen in den Augen. Als ich am nächsten Morgen wach geworden bin, war alles von mir abgefallen, und ich habe nur nach vorn geschaut.
Wie haben Sie diese Zeit bis zu Ihrem Antritt als Assistent der Bayer-04-Geschäftsführung verbracht?
Zunächst bin ich mit meiner Familie für mehr als 60 Tage auf Weltreise gegangen. Und hätte mein Sohn nicht die deutschen WM-Spiele schauen wollen, als wir in Australien waren, wäre der Fußball kein Thema gewesen.
Wie sieht nun Ihr neuer Job aus?
In den ersten beiden Tagen hatte ich kaum etwas zu tun und habe vor allem im Internet gesurft (lacht). Am dritten Tag gab es ein Meeting mit Rudi (Völler, Sportchef; d. Red.), Fernando (Carro, Geschäftsführer; d. Red.) und Vertretern diverser Abteilungen. Ich habe gesagt, dass ich gern bei anstehenden Terminen dabei wäre. Am vierten Tag hatte ich 40 Mails mit weiteren Vorschlägen. Mittlerweile bin ich voll eingebunden. So bin ich zum Beispiel zur Eröffnung der DFL-Repräsentanz nach New York geflogen, habe Fanklubtreffen und bin an Spieltagen präsent.
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Kießling über die Krise von Bayer Leverkusen: "Tatsache ist, dass wir eine Reihe von Problemen haben"
Leiden Sie mit, wenn es nicht läuft?
Wenn ein Spiel so läuft wie das 1:4 gegen Hoffenheim, leide ich wie ein Hund. Ich weiß genau, was in den Jungs dann vorgeht. Selbst am Montag, wenn man ins Büro kommt, ist das noch nicht ganz verdaut. Gut, dass ich meine Aufgaben zu erledigen habe. So ist man gezwungen, an was anderes zu denken.
Wie erklären Sie sich die krassen Schwankungen in dieser Saison?
Tatsache ist, dass wir eine Reihe von Problemen haben. Zwar gab es nach dem schwachen Saisonstart eine Phase, in der wir von sieben Spielen nur eines verloren haben. Dann aber folgt ein Spiel wie das gegen Hoffenheim. Im Moment fehlen einfach ein paar Prozent.
Bekommen Sie mit, was Trainer Heiko Herrlich macht?
Ich schaue eigentlich jeden Tag in der Kabine vorbei. Man spürt, dass der Trainer die Dinge immer noch mit großem Optimismus angeht und weit davon entfernt ist aufzugeben.
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