An den Urlaub nach der letzten Weltmeisterschaft hat Joshua Kimmich alles andere als gute Erinnerungen. Nach dem katastrophalen Vorrundenaus in Russland jettete er im Sommer 2018 gemeinsam mit seiner Lisa nach Südafrika – und schaute kein einziges Spiel der Endrunde mehr an.
"Ich musste abtauchen – von den Leuten, von den Medien, vom gesamten Turnier. So down war ich im Fußball noch nie", erinnerte sich Kimmich jüngst in einem Gastbeitrag für Theplayerstribune. "Für meine Freundin muss das eine furchtbare Zeit gewesen sein. Körperlich ging es mir zwar gut, aber mental habe ich einige Wochen gebraucht, um mich davon zu erholen. Ich fühlte mich wie ein Zombie und verkroch mich in meiner Enttäuschung." Dass der Titelverteidiger in einer überschaubar schweren Gruppe mit Mexiko, Schweden und Südkorea als Letzter scheiterte, war für den ehrgeizigen Kimmich bei seiner ersten WM bis heute die "größte Enttäuschung meiner Karriere".
Auch drei Jahre später – bei der coronabedingt verschobenen EM 2021 – war bereits im Achtelfinale (0:2 gegen England) Schluss. Erneut viel zu wenig für die hohen Ansprüche der Deutschen und vor allem ihres zentralen Mittelfeldspielers, der mit seinen 27 Jahren auf Klubebene bereits alles abgeräumt hat, was es zu gewinnen gibt. Siebenmal wurde er mit dem FC Bayern Deutscher Meister, holte dreimal den DFB-Pokal und 2020 die Champions League – damals noch unter dem heutigen Bundestrainer Hansi Flick. Nun wollen die beiden in Katar dafür sorgen, dass auch die Nationalmannschaft endlich in die Weltspitze zurückkehrt.
"Der Druck, etwas zu gewinnen, nimmt mit jedem Turnier zu", weiß Kimmich, dem bei der aktuellen Mission eine absolute Schlüsselrolle zukommt. "Er ist ein ganz wichtiger Baustein", sagt Thomas Müller. Und Kapitän Manuel Neuer ergänzt: "Jo ist ein Stratege, der in der Zentrale abwiegt, wann er das Spiel schnell oder langsam machen muss." Dass Flick seinen Lieblingsschüler dort sehen will und nicht auf der Außenverteidigerposition, belegt diese Wertschätzung. Denn: Mit einer "Versetzung" Kimmichs nach rechts hinten könnte der DFB-Coach viele aktuelle (Luxus-)Probleme lösen. Zum einen gäbe es die Vakanz dort mit einem Schlag nicht mehr, zum anderen würde im defensiven Mittelfeld ein Platz frei – beispielsweise für Ilkay Gündogan. Dem Kapitän von Manchester City droht derzeit die Bank, was innerhalb der Mannschaft viele nicht nachvollziehen können.
Lahm-Position für Kimmich ausgeschlossen
"Nein", antwortete Flick dennoch unmissverständlich auf die Frage, ob diese Option für ihn in Betracht käme. Er setzt ohne jeden Zweifel auf Kimmich als Taktgeber, als Ballverteiler, als Metronom des deutschen Spiels. Ähnlich wie sein Vorgänger Joachim Löw. Der musste 2014 jedoch zu seinem Glück gezwungen werden. Löw rotierte den damaligen Kimmich, Kapitän Philipp Lahm, entgegen vieler Expertenforderungen erst im Turnierverlauf aus der Mitte heraus auf die Rechtsverteidigerposition – allerdings nur, weil sich Shkodran Mustafi verletzte. Nach dessen Muskelbündelriss im Achtelfinale gegen Algerien (2:1 n. V.) rutschte Lahm zurück – im Nachhinein möglicherweise der entscheidende Move auf dem Weg zum vierten Titelgewinn.
Dass sich Ähnliches in Katar wiederholen könnte, ist Stand jetzt allerdings ausgeschlossen. Zumal sich Kimmich nach einer Schwächephase und einigen Rückschlägen wie der Impfdebatte samt Corona-Erkrankung zuletzt wieder als Ankurbler in Topform präsentierte. Und dabei auch etwas defensiver agierte. Sowohl bei Bayern als auch beim DFB wurde die Debatte um die zu offensive Auslegung seiner Mittelfeldrolle zuvor durchaus diskutiert. Kimmich hat das Problem offenbar erkannt.
"Wir haben aus 2018 gelernt", verspricht er vor dem Auftaktmatch gegen Japan. "Ich warte seit viereinhalb Jahren auf eine neue Chance." Ab Mittwoch wird er sie bekommen.
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