Für einen Moment gab Mikel Arteta seine Zurückhaltung auf. Der FC Arsenal hatte gerade das Londoner Derby gegen den FC Chelsea gewonnen, 1:0. Anfang November war das, kurz vor der WM-Pause. Ob seine Mannschaft ein ernsthafter Kandidat für die Meisterschaft in England sei, wurde Arteta gefragt. Zum ersten Mal in dieser Saison gestand der spanische Trainer: "Heute sind wir das", schob aber vorsichtshalber hinterher: "Im Fußball können die Dinge morgen schon wieder anders aussehen." Bescheiden bleiben, von Spiel zu Spiel denken – das ist Arteta wichtig.
Dabei ist es ja so: Wenn die Premier League am zweiten Weihnachtstag, dem Boxing Day, aus der WM-Unterbrechung zurückkehrt, gibt die Tabelle eine eindeutige Antwort auf die Frage nach Arsenals Titelaussichten. Die "Gunners" haben in dieser Saison erst eine Niederlage kassiert und führen die Rangliste an. Der Vorsprung auf Meister Manchester City beträgt fünf Punkte. Der Klub aus dem Norden Londons muss ernst genommen werden im Rennen um die Meisterschaft. Die Träume vom ersten Titel seit 2004, als Arsenals "Invincibles" unter Trainerikone Arsène Wenger keine einzige Partie verloren hatten, sind real.
"Trust the process": Arsenal-Coach Arteta behält recht
Das ist das Werk von Mikel Arteta. Der einstige Arsenal-Kapitän ist in diesen Tagen seit genau drei Jahren im Amt. Er hat es geschafft, die Irrfahrt des Klubs nach Wengers Abschied im Frühjahr 2018 zu beenden. Zu Beginn der vergangenen Saison war Artetas Projekt fast schon gescheitert. Nach drei Niederlagen waren die Londoner Tabellenletzter. Die öffentliche Meinung drehte sich gegen den unerfahrenen Trainer, doch dieser erklärte wie ein Mantra, dass die Neuerfindung des FC Arsenal ein Prozess sei, dem es zu vertrauen gelte: "Trust the process."
Was damit gemeint war, wird mittlerweile sichtbar. Arteta hat eine perfekt harmonierende Mannschaft geschaffen, die in dieser Saison auch in der Lage ist, namhafte Gegner zu besiegen. Eine Vielzahl junger Profis wie Kapitän Martin Odegaard (mit sechs Toren bester Arsenal-Schütze), der brasilianische Außenstürmer Gabriel Martinelli oder Englands Nationalspieler Bukayo Saka haben einen Reifeprozess durchlebt.
Arteta glaubt an "den Kult des Kollektivs"
Arteta stellt Disziplin und Teamgeist über alles. Er glaubt an "den Kult des Kollektivs", wie die Zeitung „Guardian“ es formulierte. Namhafte Problemprofis wie Mesut Özil und Pierre-Emerick Aubameyang hat der Trainer ausrangiert, den zwischenzeitlich in Ungnade gefallenen Granit Xhaka integrierte er wieder. Schlüssel zum Erfolg war auch die Verpflichtung von Linksverteidiger Oleksandr Zinchenko und Mittelstürmer Gabriel Jesus von Manchester City zu dieser Saison. Sie waren unter Pep Guardiola zu gestandenen Premier-League-Profis gereift, spielten im Milliardenensemble aber nur eine Nebenrolle. Bei Arsenal sind sie Eckpfeiler.
Die WM brachte eine Hiobsbotschaft. Der Brasilianer Gabriel Jesus verletzte sich gegen Kamerun am rechten Knie. Arteta muss mehrere Monate ohne seinen zweitbesten Torschützen (fünf Treffer) und besten Vorbereiter (sechs Vorlagen) auskommen. Eine Möglichkeit wäre, den Ausfall intern zu kompensieren. Eddie Nketiah und Martinelli kommen als Ersatz infrage. Möglicherweise bedienen sich die Londoner aber auch auf dem Transfermarkt, der im Januar wieder öffnet.
Ob die Londoner weiter von der Meisterschaft träumen können, wird sich nicht zuletzt beim Programm nach den Feiertagen zeigen – angefangen mit der Partie am Boxing Day gegen West Ham United (21 Uhr, Sky).