Der Großteil der Weltmeisterschaft in Katar ist gespielt, 60 von 64 Partien wurden bereits bestritten. Etwas fiel direkt beim Eröffnungsspiel zwischen Gastgeber Katar und Ecuador auf, als es trotz weniger Unterbrechungen insgesamt zehn Minuten obendrauf gab: Die Schiedsrichter gehen sehr großzügig mit den Nachspielzeiten in beiden Halbzeiten um. Dieses Verhalten setzte sich im zweiten Spiel zwischen England und dem Iran (6:2), wo ganze 27 Minuten mehr gespielt wurden, fort – bislang Rekord im Turnier. Der SPORTBUZZER, das Sportportal des RedaktionsNetzwerks Deutschland (RND), blickt auf die bisherigen Nachspielzeiten der WM in Katar.
Allein nach den ersten vier Partien gab es 65 Minuten obendrauf – und es folgten viele weitere: Insgesamt 685 Minuten ließen die Schiedsrichter nach 45 und 90 Minuten zusammengerechnet bislang nachspielen. Runtergerechnet auf 90 Minuten pro Spiel kommt man auf Extra-Spielzeit von 7,6 Spielen. Wenn man so will gab es also mehr oder weniger unbemerkt über sieben WM-Spiele mehr. Daraus ergibt sich eine durchschnittliche Nachspielzeit von über elf Minuten pro Spiel. Zum Vergleich: Bei der WM 2018 in Russland waren es nur knapp sieben Minuten.
Und wie sieht es im europäischen Top-Fußball aus? Einer Studie des Internationalen Zentrums für Sportstudien (CIES) zufolge, betrug die durchschnittliche Nachspielzeit für den Zeitraum vom 1. Juli 2019 bis 3. März 2021 in der englischen Premier League ebenfalls etwas über sieben Minuten. Die Bundesliga befindet sich im Ranking der europäischen Top-Ligen mit knapp fünfeinhalb Minuten an letzter Stelle (selber Zeitraum).
Zwar stellt die Extra-Spielzeit eine zusätzliche Belastung für die Spieler da, sie haben allerdings auch länger Zeit, auf Rückstände zu reagieren. Ein gutes Beispiel dafür ist Wout Weghorst, der die Niederlande im Viertelfinale gegen Argentinien mit seinem späten Treffer (90.+11) ins Elfmeterschießen rettete (5:6 n.E.). Im Gruppenspiel zwischen Wales und dem Iran fielen in der zwölfminütigen Nachspielzeit sogar gleich zwei Treffer für die Iraner (90.+8/90.+11), die ihnen letztlich den Sieg (2:0) bescherten. Zusätzlich zu diesen drei Toren fielen fünf weitere über die 45. oder 90. Minute hinaus. Außerdem wurden vier Treffer aufgrund von Abseitsstellungen nicht gegeben, darunter auch das vermeintliche 2:0 von Kai Havertz für die DFB-Elf gegen Japan.
Schiedsrichter-Chef Pierluigi Collina rechtfertigt lange Nachspielzeiten
Ex-FIFA-Schiedsrichter Babak Rafati hat eine klare Meinung zu den erhöhten Nachspielzeiten: "Das ist völlig sinnlos. Das will doch keiner. Gerade bei einem Spielstand von 6:1 ist eine Nachspielzeit von zwölf Minuten völlig übertrieben", sagte Rafati zu WM-Beginn im Gespräch mit dem SPORTBUZZER und machte für diese Neuerung die Spitze des Weltverbands um Schiedsrichterchef Pierluigi Collina verantwortlich: "Collina hat seinen eigenen Kopf und macht Regelungen, die total spezifisch sind. Aber da steckt natürlich auch ein anderer Gedanke der FIFA dahinter. Wenn ein Spiel länger dauert, kann man sich mehr zeigen und präsentieren, die Leute sitzen auch länger vor dem TV. Das ist reines Kommerzdenken."
Auch Collina hatte zu Beginn des Turniers bekräftigt, dass man "die Nachspielzeit sehr sorgfältig kalkulieren" wolle. Die Zeit, die durch Zwischenfälle verloren geht, soll komplett nachgeholt werden. "Wir wollen nicht, dass es in einer Halbzeit nur 42 oder 43 Minuten aktives Spiel gibt, das ist nicht akzeptabel", betonte der Schiri-Chef. So solle die Zeit, die durch Torjubel, Auswechslungen, Verletzungen oder Platzverweise verloren gehe, in jedem Fall nachgespielt werden. "Sieben, acht, neun Minuten Nachspielzeit", seien in einem normalen WM-Spiel in Katar durchaus zu erwarten. Und er behielt Recht, stapelte letztlich sogar noch recht tief.