Der frühere Nationalspieler Thomas Hitzlsperger hat mit deutlichen Worten das deutsche Vorgehen rund um die "One Love"-Kapitänsbinde und die anschließende Geste der DFB-Spieler vor dem WM-Auftaktspiel gegen Japan (1:2) kritisiert - und sich selbst dabei nicht ausgespart. "Heute muss ich erkennen: Wir haben uns verrannt. Wir haben zu sehr gedacht, dass wir die Bühne nutzen müssen um vielleicht Menschen eine Stimme zu geben, die keine Stimme haben. Jetzt muss man erkennen: Die FIFA und Katar bestimmen, was da passiert bei dieser WM. Und wenn wir kein Druckmittel haben, dann kommen wir damit nicht durch", sagte Hitzlsperger in der ARD.
Mit der Häme und den Gegenprotesten, die Deutschlands Spieler während der Vorrunde und besonders nach dem Ausscheiden vor allem im Gastgeberland Katar über sich ergehen lassen mussten, sei nach der Aktion zu rechnen gewesen, so Hitzlsperger weiter. "Wenn der sportliche Erfolg ausbleibt, kommt das alles zurück." Er selbst habe sich im Vorfeld der WM sehr mit der Lage in Katar auseinandergesetzt. "Ich durfte einmal zur Mannschaft sprechen und habe sie auch animiert, ich fände es gut, wenn sie die Plattform nutzen und für unsere Werte einstehen", sagte der frühere Mittelfeldspieler, der für die ARD vor der WM die Dokumentation "Katar - warum nur?" gedreht hatte.
Trotz anders lautender Ankündigung vor dem Turnier hatten der DFB und andere Nationen auf Druck der FIFA auf das Tragen der Binde, die unter anderem für Toleranz und Diversität steht, verzichtet. Die Debatte darum (und über die generelle Menschenrechtslage im Emirat) hatte vor dem deutschen Turnier-Start hohe Wellen geschlagen - nicht zuletzt, weil die FIFA mit sportlichen Sanktionen gedroht hatte, sollte Kapitän Manuel Neuer die Binde doch tragen. "Wenn allein schon die Androhung einer Gelben Karte und sportlicher Sanktionen reichen, dass sie es zurückziehen, dann bringt das alles nichts", urteilt Hitzlsperger rückblickend.
Hitzlsperger: "One Love"-Debatte für Spieler "nicht förderlich"
Die Mannschaft hielt sich vor dem Anpfiff gegen Japan auf dem Teamfoto schließlich den Mund zu, um gegen das Verbot durch die FIFA zu protestieren. Eine Aktion, die erneut für Diskussionen sorgte und den Fokus vom Sportlichen abrückte. Laut ARD hätten allein Neuer und Leon Goretzka sich für diese Aktion ausgesprochen, während der Großteil der Mannschaft genau wie die übrigen europäischen Nationen gar nichts machen wollte. "Wir - und ich beziehe mich da natürlich mit ein - oder auch der Verband können natürlich nicht von der Mannschaft fordern, dass sie das jetzt machen muss", sagte Hitzlsperger. "Es wird nicht mehr funktionieren. Wir sind dafür richtig auf die Fresse geflogen." Denn letztlich überlagerte die Diskussion die Vorbereitung des Teams auf das Turnier und trug sicherlich zur Verunsicherung innerhalb des Kaders bei.
Der Ex-Nationalspieler (52 Einsätze, sechs Tore), der in den vergangenen Jahren als Vorstandsvorsitzender des VfB Stuttgart tätig war und DFB-Botschafter für Vielfalt ist, nahm die deutschen Spieler indes in Schutz. "Ich bin der Meinung, die Spieler haben sich am Ende zu sehr damit beschäftigen müssen und es war nicht förderlich. Aber man muss auch sagen, kein Spieler hat es bisher als Alibi genutzt und das fand ich sehr, sehr gut", sagte der 40-Jährige, der für die ARD gemeinsam mit Weltmeister Sami Khedira und Europameisterin Almuth Schult als Experte tätig ist.
Der umstrittene DFB-Direktor Oliver Bierhoff hatte unmittelbar nach dem deutschen WM-Aus Fehler im Umgang mit der "One Love"-Binde eingeräumt. "Das hätten wir ohne Zweifel besser machen können. Ob das für das Ausscheiden entscheidend ist, ist ein anderes Thema", sagte der Ex-Stürmer und ergänzte, dass das Thema in der "sportlichen Analyse" des ernüchternden Turniers "kein Aspekt" sei.
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